Urbanes aus der Urbanstraße

Gefährliche Orte LX: "Neukölln City". Das Neuköllner Heimatmuseum sucht die Stadt im eigenen Bezirk

Eberhard Diepgen will die Mauer wieder aufbauen, der kleine Elefant Tutume fällt im Tierpark von der Brüstung seines Geheges und die Frau, die ihren Mann mit einer Bratpfanne erschlagen hat, wird freigesprochen. - Das sind die Eckpunkte des urbanen Diskurses der vergangenen Woche in Berlin.

Weil der Großstädter in der Regel nicht damit fertig wird, daß die Stadt, in der er lebt, so groß ist, versucht er ständig, sie sich zum Dorf zu reden. Was liegt da näher, als das Dorf zur Stadt zu machen? Genau das ist vor 100 Jahren passiert: Rixdorf, dem damals größten Dorf Preußens, wurden die Stadtrechte verliehen, und es durfte fortan den Beinamen "Neukölln" mit sich herumtragen.

Eine kluge Entscheidung, denn immerhin kann Neukölln - in Berlin nur ein Bezirk unter anderen - mit seinen derzeit gut 300 000 Einwohnern im Vergleich der deutschen Großstädte einigermaßen mithalten. 1920 war es mit der Städteherrlichkeit dann aber schon wieder vorbei, der Bezirk wurde in das neue Groß-Berlin eingemeindet. In etwa um diesen Zeitraum dreht es sich in der neuen Ausstellung des Neuköllner Heimatmuseums, die sich "Neukölln City" nennt und sich eine große Frage stellt: Was eigentlich ist urbanes Leben?

Ein Kalauer aus alten Mauer-Zeiten gibt darauf die einfache und plausible Antwort, daß das einzige, was an Berlin urban sei, wohl die Urbanstraße sein müsse. Zufällig liegt genau dort einer der Anknüpfungspunkte der Ausstellung: beim Urban-Krankenhaus als einem der Orte, an den all die Neuköllner gebracht wurden, die durch das urbane Leben beschädigt wurden. Eine Szene aus Johann Feindts Film "Der Versuch zu leben" (1983) mit einem ganz schön beschädigten Klienten dieser Institution läuft auf Endlosschleife, dazu kann man sich an einem alten Telefon Notrufe an die Neuköllner Feuerwehr anhören. - Meistens zünden sich die verrückten Neuköllner die eigenen vier Wände selber an.

Auf der Suche nach der Frage zu der Antwort der Urbanität macht die Ausstellung an fünf weiteren Stationen halt: dem Kaufrausch im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz; der kleinbürgerlichen Bildungschance im Klassenzimmer; dem klaustrophobiegenen BVG-Abteil; der engen Dachkammer des Schlafburschen; dem Frisiersalon als Refugium des Neuköllners, der sich nach all der Arbeit nun auf die anstehende Freizeitarbeit vorbereitet.

Das ist alles ganz putzig arrangiert, und man sieht die Mühe, die sich die Ausstellungsmacherinnen Monica Geyler, Claudia Rücker und Andrea Szatmary bei der Umsetzung ihrer Ideen gemacht haben. Die Stadt als sich immer wieder selbst inszenierendes Spektakel findet hier ihren Ausdruck. Doch zur Frage, wie man die Stadt als komplexes Ding denn nun bewältigen soll, trägt dies nicht viel bei. Da kommt man vom wüsten Trubel auf der Karl-Marx-Straße in den idyllischen Hof des kleinen Museums und wird - mit etwas historischer Distanz - in eben die Situationen geworfen, denen man gerade entkommen ist. Das mag zwar einen gewissen aufklärerischen Effekt haben - aha, den Konflikt gab es also auch damals schon -, analytisch macht es jedoch nicht viel her. Daher verwundert es auch nicht, daß der "Katalog" zur Ausstellung gerade mal 24 Seiten stark ist und sparsame 75 mal 160 Millimeter mißt.

Trotzdem bemüht man im Neuköllner Heimatmuseum wie immer, an der Spitze der Museumspädagogik zu bleiben. Zu diesem Zweck hat man diesmal einen echten Computer aufgestellt. Er vermittelt einen Spaziergang vom Hermannplatz zum Richardplatz in der Zeit um 1899. Wenn man an der Wäscherei in der Richardstraße vorbeikommt, rummst es sogar richtig, denn der ganze Laden ist gerade in die Luft gegangen. Der inzwischen etwas pummelig gewordene Museumsleiter Udo Gößwald ist ziemlich stolz auf diese Errungenschaft: "Das ist nun wirklich das Allerneueste auf dem Markt." Und die Animationen sind tatsächlich ganz anständig gemacht.

Eine ganz andere, noch im Entstehen begriffene Animation befindet sich in ca. 300 Metern Luftlinie vom Museum im Bau: das Forum Neukölln. Es dient der Ausstellung als Endpunkt von sechs paradigmatischen Städteplanungsentwürfen, die im abgelaufenen Jahrhundert im Bezirk getestet wurden. Weil sich früher oder später alle von ihnen als Flops erwiesen haben, darf man sich vom neuen, schönen, tollen Einkaufs- und Erlebniszentrum an der Karl-Marx-Straße auch nicht viel anderes erwarten.

Diese Zeitreise startet im Rollbergviertel, dem ersten großangelegten Wohnungsbauprojekt in der Gegend. Ab 1875 wurden hier auf möglichst kleinem Raum so viele Wohnungen gebaut, daß sie Mitte der sechziger Jahre schon wieder abgerissen und durch möglichst abschreckende Beispiele des sozialen Wohnungsbaus ersetzt werden mußten. Der nächste Versuch, die Lebensqualität in Neukölln zu verbessern, fand um die Jahrhundertwende nur wenige hundert Meter entfernt davon statt: An der Schillerpromenade sollte nun so komfortabel und großzügig gebaut werden, daß dort auch etwas zahlungskräftigere Mieter einziehen würden - was natürlich bis heute nicht passiert ist.

Ehrgeiziger war dann schon Bruno Tauts Plan, mit der Hufeisensiedlung in Britz in den zwanziger/dreißiger Jahren die Nachteile des urbanen Lebens durch rurale Elemente zu kompensieren. Zwanzig Jahre später machte Martin Gropius den verwegenen Entwurf einer Großsiedlung als Stadt in der Stadt am Rande der Stadt, von dem am Ende nur ein Haufen Hochhäuser übrigblieb. Lustige Pointe am Schluß ist die "Highdeck-Siedlung" am äußersten Ende der Sonnenalle, die am Ende der siebziger Jahre Urbanität mit Automobilität verwechselte und einen Häuserkomplex schuf, der den Bewegungswahn seiner Bewohner so gut es ging zu kaschieren suchte.

Daß die Urbanisierung gerade in Neukölln ein echtes Problem darstellt, liegt mitunter auch an der sozialen Zusammensetzung. Das meint zumindest Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland: Das Problem sei, daß es gerade im Norden des Bezirks besonders viele "Sozialhilfeempfänger, Ausländer und alles sowas" gebe. Mit denen ist natürlich auch nicht anständig Stadt zu machen.

Nach der Ausstellung kann man ihr das noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und den neuesten städtebaulichen Entwurf am lebenden Objekt studieren: Die Baustelle des Forum Neukölln nimmt bereits Formen an. Nach dem von Robin Williams, den Backstreet Boys und der Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) beschworenen Millennium soll dort neben jeder Menge Geschäfte, Restaurationen und neun Kinos auch die Neuköllner Stadtbibliothek einziehen, die extra für diesen Bau abgerissen und ins Kreuzberger Exil ausgelagert wurde.

"Neukölln City". Bis zum 2. April 2000 im Heimatmuseum Neukölln, Ganghofer Str. 3-5, Berlin-Neukölln, mittwochs bis freitags 13 bis 18 Uhr, samstags und sonntags 12 bis 18 Uhr.