Pekinger Paraden

Bei seinem Arbeitsbesuch im Reich der Mitte stieß der Bundeskanzler auf Wut und Pragmatismus der Chinesen

"In unserer Stadt gibt es keinen Frühling", sagen die Pekinger. Nach den langen Wintern wird es Anfang Mai schlagartig heiß. Innerhalb einer Woche weicht der Wintersmog dem Sommerdunst, trockene Kälte wandelt sich in schwüle Hitze.

So auch dieses Jahr im Mai. Mit einem Unterschied: Nach den Raketeneinschlägen in der chinesischen Botschaft in Belgrad flogen noch am selben Abend Steine und Farbbeutel. Zum ersten Mal seit zehn Jahren gingen die Chinesen und Chinesinnen auf die Straßen, von Shenyang im Norden bis Hongkong im Süden.

Als "absichtliche Handlung", "barbarischer Akt" und "brutale Zertretung der Souveranität Chinas" wurde der Angriff verurteilt. Dazu gab es großformatige bunte Fotos von den Verletzten in ihrem Blut - Bilder, die man sonst nie in einer chinesischen Zeitung sieht. Die USA könnten es nicht vertragen, sagten aufgebrachte Demonstranten in Interviews, daß China immer stärker werde und eine wichtigere Rolle in der Welt spiele.

Die Stimmung gegenüber den USA ist seit Wochen gereizt. Schon vor den ersten Angriffen auf Jugoslawien bewegten sich die diplomatischen Beziehungen auf einen Tiefpunkt zu. Mit Berichten, China habe geheime Informationen aus dem Atomforschungszentrum Los Alamos geklaut, begannen die jüngsten Spannungen zwischen beiden Ländern. Die USA-Reise von Premierminister Zhu Rongji Anfang April fand schon unter heftigem Widerstand aus den eigenen Reihen statt. Nur schwer konnte er Vorwürfe entkräften, er habe bei den Verhandlungen zum WTO-Beitritt der Volksrepublik die Interessen seines Landes verkauft.

Auch in der Kosovo-Frage waren die Fronten verhärtet. Die Nato-Bombardements seien "verbrecherische Gewaltakte" wider jegliches internationales Recht, hieß es in den Medien Chinas. Man fühle sich "in den Imperialismus zurückversetzt", schrieb die Volkszeitung in einem bissigen Kommentar.

Aus verständlichen Gründen betonte die chinesische Führung ihren Standpunkt immer wieder: Niemand habe das Recht, sich in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen. 55 Minderheiten leben in der Volksrepublik, die formal einen Autonomiestatus zuerkannt bekommen haben. Chinas Kosovo könnte in Tibet oder in der West-Provinz Xinjiang, wo uigurische Separaristen immer wieder Terroranschläge verüben, liegen.

Die Demonstrationen sollten sowohl nach außen als auch nach innen ein deutliches Zeichen setzen: Das chinesische Volk weiß seine Interessen durchzusetzen und steht in der Not zusammen. Und dies in einer Situation, in der ein solcher Zusammenhalt kaum noch sichtbar ist. 6 000 von 16 000 großen und mittelgroßen Staatsbetrieben machen Verluste; Massenentlassungen stehen auf der Tagesordnung. Chinesische Experten gehen davon aus, daß es mittlerweile rund 20 Millionen Arbeitslose gibt, die nahezu ohne staatliche Unterstützung in der "sozialistischen Marktwirtschaft" über die Runden kommen müssen.

Zwar ist nach offiziellen Angaben im ersten Quartal dieses Jahres das chinesische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 8,3 Prozent auf 1 678 Milliarden Yuan (rund 202 Milliarden US-Dollar) gestiegen, aber damit hatte sich das Wachstum gegenüber dem Vorquartal bereits verlangsamt. Dieser Abwärtstrend könnte sich in den kommenden Monaten weiter fortsetzen, ist doch das Wachstum in erster Linie auf ein massives Konjunkturprogramm zurückzuführen, mit dem die Regierung die Infrastruktur ausbauen und die durch die Asienkrise verursachten Einbrüche wettmachen wollte.

Viele der begonnenen Projekte laufen jedoch demnächst aus. Dabei bleibt den Verantwortlichen nichts weiter übrig, als weiter die Binnenwirtschaft anzuheizen. Chinas Exporte sind im ersten Quartal um knapp acht Prozent auf 37 Milliarden Dollar eingebrochen, während die Importe um elf Prozent auf 33 Milliarden Dollar stiegen. Der daraus resultierende Positivsaldo in der Handelsbilanz ist um mehr als die Hälfte zurückgegangen.

All das bereitet den Mächtigen im Land einiges Kopfzerbrechen: Dazu kommen in diesem Jahr einige pikante Jahrestage, allen voran der 4. Juni - der Tag, an dem Studenten vor zehn Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens für eine Art chinesische Perestroika demonstrierten und zusammengeschossen wurden.

In einer solchen innen- wie außenpolitsch heiklen Situation tauchte Gerhard Schröder auf, dessen viertägigen Staatsbesuch die chinesische Führung auf ein eintägiges Arbeitstreffen verkürzt hatte - ohne Wirtschaftsdelegation. Ihm fiel als erstem Vertreter eines kriegführenden Staates die Aufgabe zu, den Ernst der Lage zu erkunden. Würden sich die Beziehungen zur Volksrepublik ernsthaft verschlechtern oder waren nur zeitweilige Verstimmungen zu erwarten? Schröder zeigte sich diplomatisch, unterstellte der chinesischen Führung auf einer Pressekonferenz aber ex negativo, wer die Chinesen für "käuflich" halte, sei "auf dem falschen Dampfer".

Dabei ist es im zwischenstaatlichen Geschäft nur üblich, Schwierigkeiten wie die, in die sich die Nato gebombt hat, knallhart auszunutzen. Während China noch trauert, werden hinter den Kulissen die Preise genannt. Selbstverständlich erwartet China Konzessionen für den Fall, daß sich das Land nach der Bombardierung seiner Botschaft auf Kompromisse im Uno-Sicherheitsrat einläßt.

China will für den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO nicht mehr die weitreichenden Zugeständnisse machen, die Ministerpräsident Zhu Rongji noch im April bei seinem Besuch in den USA angeboten hatte. Darüber hinaus verlangt Peking von den USA, Taiwan - das China als abtrünnige Provinz betrachtet - nicht in den sogenannten Raketenschutzschirm für weite Teile Ost- und Südostasiens mit einzubeziehen.

Allerdings kann es sich Peking gar nicht leisten, den Westen allzusehr zu verstimmen und die wirtschaftlichen Kontakte zu gefährden. Deshalb soll der von Schröder ursprünglich geplante Staatsbesuch mit Wirtschaftsdelegationen - und Verträgen in Millionenhöhe - auch so bald wie möglich nachgeholt werden. Ein Bonbon gab es bereits in der vergangen Woche: Trotz aller Spannungen lag der Zeitung Daily China eine Sonderbeilage über die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen bei.