Schlauer als Duma erlaubt

Der russische Präsident Jelzin hat Premierminister Primakow gefeuert. Dessen Nachfolger soll der bisherige Chef der Abteilung innere Sicherheit, Sergej Stepaschin, werden

Boris Jelzin hat erneut einen russischen Ministerpräsidenten erlegt. Nun kann er sich auch mit dem schütteren Skalp von Jewgeni Primakow schmücken. Der hatte sich in seiner lediglich achtmonatigen Amtszeit zu einem ernsthaften Rivalen Jelzins gemausert.

Der ehemalige KGB-Chef hatte im Weißen Haus ein konkurrierendes Machtzentrum zum Kreml aufgebaut und sich nicht deutlich genug von den Plänen der KP-dominierten Duma, Jelzin mit einem Impeachment-Verfahren zu stürzen, abgesetzt. Im schon lange schwelenden Machtkampf zwischen Ministerpräsident, Kreml-Chef und Parlament zog Primakow am Mittwoch vergangener Woche den kürzeren. Und darüber hinaus hat Jelzin politische Absolution erlangt.

Das Timing für die Entlassung Primakows war risikoreich: Denn die Duma begann tags darauf mit den Beratungen über das Amtsenthebungsverfahren, um am Samstag die Anklagepunkte abzustimmen. Primakows Entlassung war ein klarer Affront gegen die von KP und deren Alliierten dominierte parlamentarische Opposition und erhöhte die Wahrscheinlichkeit, daß zumindest in einem Anklagepunkt die erforderliche Zweidrittelmehrheit zustande kommen würde. Lediglich die rechtsextremen Liberaldemokraten Schirinowskis waren zuverlässige Parteigänger Jelzins gegen das Impeachment. Schließlich würde nach Ansicht von Schirinowski eine Amtsenthebung "Rußland verwundbar machen für Angriffe seitens der Nato und Chinas".

Jelzin setzte noch einen drauf. Primakows Entlassung hatte er mit der stereotypen Begründung versehen, der Premier habe die Wirtschaftsreformen zu zögerlich vorangetrieben. Sein Nachfolger könne den Reformen neuen Schwung verleihen.

Dem allerdings kann man alles nachsagen, nicht aber Kompetenz im "Reformieren" niedergehender Ökonomien. Seine Stärke liegt anderswo: Jelzins neuer Kandidat Sergej Stepaschin war ab 1994 Chef des Inlandsgeheimdienstes und seit 1998 als Innenminister Herr über die 250 000 Mann starke Truppe für die innere Sicherheit. Stepaschin ist ein hundertprozentiger Getreuer Jelzins, und die Duma konnte seine Nominierung getrost als kaum verhüllte Warnung betrachten: Im Herbst 1993 bei der Auflösung des Obersten Sowjets durch Jelzin hatte Stepaschin das Parlament beschießen lassen. Und, besonders pikant im Hinblick auf das Amtsenthebungsverfahren: Stepaschin war einer der Hauptverantwortlichen für den Tschetschenien-Krieg.

Damit war das Szenario für einen Verfassungskonflikt geschaffen: Sollte die Duma Stepaschin die Zustimmung drei Mal verweigern, ist der Präsident verpflichtet, sie aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Andererseits kann der Präsident nach der russischen Verfassung die Duma nach Einleitung eines Impeachment-Verfahrens nicht mehr auflösen - dies gilt allerdings höchstens für die Dauer von drei Monaten.

Insofern hätte ein Duma-Votum für ein Amtsenthebungsverfahren gewissermaßen ein Schutzschild gegen die Auflösung des Parlaments durch den autokratischen Jelzin sein können. Der erhöhte am Freitag, am Tag vor der Duma-Abstimmung, noch den Einsatz. Aus dem Kreml verlautete, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin würde eine "Kriegserklärung" darstellen, und die Entscheidungen Jelzins in diesem Falle könnten "überaus unerwartet" ausfallen - ein deutliches Drohen mit der Auflösung der Duma. Ein Kreml-Offizieller betonte zudem, die Duma solle sich nicht mit dem Gedanken trösten, ein Votum für die Amtsenthebung würde der Auflösung der Kammer zuvorkommen. Ein solcher Gedanke sei "zutiefst irreführend".

Das Kalkül hinter diesen Äußerungen war simpel, hatte sich aber schon mehrfach bei der Durchsetzung von - der Duma-Mehrheit unliebsamer - Premiers bewährt: Die Spekulation darauf, daß Abgeordnete mit der Aussicht auf eine ungewisse Zukunft ungern auf die Privilegien verzichten, die ihnen ihr Amt gewährt. Nach der Wahl ging denn auch das Gerücht um, wonach Emissäre des Kremls in der Mittagspause Hinterbänkler aller Fraktionen mit Geldgeschenken und Aussicht auf Abteilungsleiterposten im neuen Kabinett bestochen haben sollten. Duma-Präsident Gennadij Selesnjow beauftragte daher die Zählkommission, Listen vorzulegen, aus denen die namentlichen Stimmergebnisse hervorgehen.

Fast ein Jahr lang war das Amtsenthebungsverfahren vorbereitet worden, und fünf Anklagepunkte hatte der zuständige Ausschuß zusammengesammelt: Jelzin habe 1991 illegal konspiriert, um die Sowjetunion zu zerstören (Hoch- und Landesverrat); er habe im Oktober 1993 die verfassungsmäßige Ordnung über den Haufen geworfen und das gewählte Parlament, den Obersten Sowjet, gewaltsam aufgelöst (Staatsstreich); er habe einen zweijährigen Bürgerkrieg in Tschetschenien entfesselt, der Zehntausende Todesopfer forderte; er habe Rußlands nationale Verteidigung unterminiert, indem er die russischen Streitkräfte ruinierte; und schließlich habe er einen "Genozid" an der russischen Bevölkerung begangen, indem er Marktreformen einführte, die fallende Geburtenraten und eine geringere Lebenserwartung der Bevölkerung zur Folge hatten.

Die Munition, mit der Jelzin aus dem Präsidentensessel geschossen werden sollte, war also durchaus großkalibrig. Und KP-Chef Gennadi Sjuganow machte vor dem Votum noch einmal Stimmung: Jelzin sei dafür verantwortlich, daß die russische Zivilisation um Tausende von Jahren zurückgeworfen wurde. Und nicht nur das: Er habe auch den Reichtum und die "Seele der Nation" zerstört - gar seltsame Worte für einen, der im Westen als Kommunist und Materialist gehandelt wird. Jelzin sei, so Sjuganow, das "absolute Übel für Rußland".

Doch die Abschweifung ins metaphysische Reich der russischen Seele nützte nichts, die materiellen Interessen der Abgeordneten erwiesen sich als stärker: Die Abstimmung ging aus wie das Hornberger Schießen. Nach Angaben der Wahlkommission der Duma erreichte keiner der Anklagepunkte die erforderlichen 300 Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit. 17 Stimmen fehlten dem von vorneherein als am aussichtsreichsten eingeschätzten Anklagepunkt wegen der Entfesselung des Tschetschenien-Krieges. Sogar einige KP-Abgeordnete sollen dagegen gestimmt haben. Auch die Rechtsradikalen um Wladimir Schirinowski unterstützten den Präsidenten.

Stepaschin, der Premier in spe, äußerte sich erfreut über das Ergebnis - nicht zuletzt im Hinblick darauf, daß eine Zustimmung der Duma zu seiner Nominierung nun wahrscheinlicher ist. Warum sollten die Duma-Parlamentarier, wenn sie dem Autokraten nicht schaden wollen, nicht auch seinen Kandidaten akzeptieren? Eine schwerwiegende politische Krise sei überwunden, meinte Stepaschin. Die Vernunft habe gesiegt.

Das war eine Lüge. Denn Jelzin hatte gesiegt, und mit ihm ein System, dessen Irrationalität ins Auge springt: Das auf der außerordentlichen Machtfülle eines irren Präsidenten basierende politische System Rußlands, das ein ökonomisches und soziales Desaster verwaltet; hinter der parlamentarischen Fassade eine Präsidialdiktatur, in der der künftige Ministerpräsident voraussichtlich der sein wird, der über die größten und schlagfähigsten Truppen verfügt; ein System, in dem die Bevölkerung ebenso weiter verelendet, wie die Verhältnisse autoritärer werden.