Chips und Fritten

Belgien zerfällt in regionalistische Cliquen, wählt aber am Sonntag trotzdem ein gemeinsames Parlament

Der ehemalige belgische Minister Lucien Outers sagte es vor 30 Jahren so: "Holländer wollten wir nicht sein, Franzosen ließ man uns nicht werden, da sind wir eben Belgier geworden." Ein Land also, dem der Furor nationaler Identität fremd ist: klingt sympathisch, ist es aber nur bedingt. Da in der Kollektivpsyche des in der Warenproduktion tätigen einfachen Menschen der Bedarf an patriotischen Identifikationsangeboten fest etabliert ist, konnte in Belgien ein surrealistisch anmutender Regionalismus aufblühen, der in seinen übelsten Varianten - etwa der Ideologie des Vlaams Blok - völkisch unterlegt ist.

Die Feindschaften zwischen den französischsprachigen Wallonen und den niederländisch sprechenden Flamen bilden die Kulisse für die am Sonntag stattfindenden Parlamentswahlen. Meinungsumfragen zeugen davon, daß die oppositionellen Rechtsliberalen und Grünen mit ordentlichen Stimmengewinnen rechnen dürfen. Stellt man den normalen mitteleuropäischen Wähler mit seiner Denkzettel-Potenz in Rechnung, dann offenbart die ablaufende Legislaturperiode in der Tat eine Regierungsbilanz, die zu einer Niederlage der Koalition aus jeweils flämischen und wallonischen Christsozialen und Sozialisten führen müßte.

Neben einer rigorosen Sparpolitik im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich, die Belgien in den Kreis der Euro-Partner führte, kann Premier Jean-Luc Dehaene auf eine Reihe von Ereignissen zurückblicken, die den "Skandal" zum Daseinszustand Belgiens machten und dabei durch fortgesetzte Minister- und Beamtenrücktritte den Bestand vorzeigbaren Personals auf eine harte Probe stellten.

Gleich nach Amtsantritt der Dehaene-Regierung mußte im Oktober 1995 der belgische Nato-Generalsekretär Willy Claes zurücktreten. Es war bekannt geworden, daß er als Wirtschaftsminister für die flämischen Sozialisten Schmiergelder bei den Rüstungskonzernen Agusta und Dassault kassiert hatte. Im Sommer 1996 begann die Affäre um den Kindermörder Marc Dutroux, die neue Würze erhielt, als der bestbewachte Häftling des Landes im April 1998 für einige Stunden aus einem Justizgebäude fliehen konnte.

Nimmt man die Ermittlungen und den Prozeß um die Ermordung (1991) des wallonischen Sozialisten André Cools hinzu, dann haben der Staatsapparat und das Establishment des Landes in den vergangenen Jahren ein Maß an Korruption und krimineller Energie offenbart, das am ehesten mit einer Soziologie des Bandenwesens zu analysieren wäre.

Gleichzeitig bekam die Regierung Dehaenes Schwierigkeiten an anderen Fronten: Als im November 1997 die Brüsseler Polizei einen aus Marokko stammenden Drogenhändler erschoß, kam es zu tagelangen Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei. Ereignisse, die ein Schlaglicht auf die - durch die Austeritätspolitik der Regierung beschleunigte - totale Verwahrlosung jener Hauptstadt-Ghettos warfen, die die sozial Deklassierten, unter ihnen viele Zuwanderer aus (Nord-)Afrika, beherbergen.

Die Lage der Gemeinden an der Peripherie der Brüsseler Innenstadt beschrieb die deutschsprachige Zeitung Grenzecho so: "In diesem Teil Brüssels finden wir die schmutzigsten Straßen, die heruntergekommensten Häuser. In die ärmlichen Schulen gehen die Kinder nur, weil es keine anderen gibt. Jahrelang hat es auch die Gemeinde Anderlecht versäumt, sich um die regelmäßige Entsorgung von grobem Hausunrat und Bauschutt zu bemühen. Jedes einzelne Haus ist ein trostloses Beispiel sozialer Ungerechtigkeit."

Zur Bilanz der Regierung Dehaene gehört auch die Brutalisierung der Asylpolitik. Am 22. September 1998 wurde die zwanzigjährige Nigerianerin Semira Adamu von Polizisten mit einem Kissen erstickt, als sie sich - breits im Flugzeug - gegen ihre Abschiebung zur Wehr setzte. Innenminister Louis Tobback demissionierte, aber auch sein Nachfolger Luc Van den Bosche pries eine harte Asylpolitik als Erfolgsrezept gegen den Vormarsch der extremen Rechten an.

Neben ihrer Agitation gegen Migranten und das Wahlrecht für Ausländer beschäftigen sich die Rechtsextremisten vor allem mit den Landkarten der Zukunft. Teile des wallonischen Front National, der im Regionalparlament über einen Sitz verfügt und in der Vergangenheit gemeinsam mit kleineren Schwesterparteien etwa sechs Prozent der Wähler mobilisieren konnte, favorisieren einen Anschluß der Wallonie an Frankreich.

Der völkische Vlaams Blok (VB) predigt spiegelverkehrt dazu den Haß auf die Wallonen und will Flandern inklusive Brüssel aus Belgien herauslösen und langfristig an die Niederlande anschließen. Der VB verfügt über elf Sitze im Zentralparlament und große Sympathien in den bürgerlichen flämischen Konkurrenzparteien. Obwohl im frankophon dominierten Brüssel ein französischsprachiger Ex-Polizeikommissar für den VB auf Stimmenfang geht, sagen frische Wählerumfragen den Separatisten nur im Stammland Stimmenzuwächse (von 12,2 auf 15,5 Prozent) voraus.

Die Frontstellung zwischen Flamen und Wallonen ist so alt wie das 1830 gebildete Königreich. Bis in die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts herrschten die wallonischen Stahl- und Kohlenbarone aus Lüttich und Charleroi zusammen mit den wallonischen Sozialisten im Land, Flandern blieb ein unterentwickelter Agrar-Landstrich. Mit der Krise der traditionellen Industrien kehrte sich die Lage um. Im Übergang vom keynesianischen Wohlfahrtsmodell zur neoliberalen Deregulierung machte ein Mix aus High-Tech, Handel und Dienstleistung die flämische Wirtschaft weltmarktkompatibel, der Süden verfiel.

Der Anteil Flanderns am belgischen Bruttosozialprodukt stieg zwischen 1955 und 1997 von 44 auf 61 Prozent. Mit dem Aufstieg wuchs die Unlust, die zunehmend als Schmarotzer betrachteten und verarmten Landsleute in der Wallonie über soziale Transfers zu alimentieren. Die wachsenden Ansprüche Flanderns schlugen sich in vier Verfassungsreformen nieder, die wichtige staatliche Zuständigkeiten an die Regionalregierungen delegierten. Das flämische Establishment nutzte den von den Rechtsextremen angefeuerten Haß auf die Wallonie zur Etablierung eines Bündnisses mit dem Mob, das unter dem Stichwort "Staatsreform" seit geraumer Zeit eine Regionalisierung der Sozialversicherung, des Steuerwesens und der Haushaltshoheit fordert. Um dem weiter Nachdruck zu verleihen, kokettieren auch hochgestellte Flamen bisweilen öffentlich mit einer Trennung von den "reformunwilligen Wallonen".

Die Ethnisierung der ungleichen wirtschaftlichen Entwicklung treibt regelmäßig bizarre Blüten. Im vergangenen Oktober legte der rechtsextreme Abgeordnete Ignace Lowie (VB) im Zentralparlament ein Gesetz zur Schaffung einer "Deutschen Provinz" vor, das die 70 000 Köpfe zählende Gruppe der deutschsprachigen Belgier der Hoheit der wallonischen Region entziehen soll.

Vor einigen Wochen forderte der flämische Minister Steve Stevaert, den nationalen Brüsseler Großflughafen unter flämische Verwaltung zu stellen. Die Wallonie schlägt zurück: Im Sommer 1998 legte man sich dort ganz patriotisch und offiziell ein Wappen, eine Flagge und eine Hymne zu, die den Ruhm und die Schönheit des mit zahllosen Fabrikruinen verzierten Landstriches besingt. Wer angesichts solcher Demonstrationen dem Gedanken an einen Wahlboykott nachgibt, muß zahlen. In Belgien herrscht Wahlpflicht.