Wahlen zum Europa-Parlament

Demokratischer Schein

Denkt man an Europa - und insbesondere an Europawahlen - so denkt man an eines: an das Demokratie-Defizit. Daß man diesen Ausdruck, der seit fast 30 Jahren wie ein vorzeitiger Euro ausgetauscht wird, bald nicht mehr hören kann, ändert nichts am Sachverhalt.

Zwar sind auch die nationalen Parlamente reichlich schwach, was ihre drei Grundfunktionen anbelangt: Gesetze eigensinning zu formulieren - gewöhnlich machen dies öffentliche und privaten Interessengruppen geleiteten Bürokratien und deren Vertreter -, die Exekutive zu kontrollieren und Öffentlichkeit herzustellen, sprich Demokratie zu vergegenwärtigen.

Aber dieses weitgehende Versagen der einzelstaatlichen Parlamente hilft wenig weiter. Allenfalls weiß man dann: Das europäische Demokratie-Defizit ist nur dann zu beheben, wenn man ganz unten anfängt und nicht so tut, als sei es nur ein europäisches Demokratie-Defizit.

Die feiernde Borniertheit der Gratulanten zum 50. Geburtstag des Grundgesetzes ist insofern auch europafeindlich. Jedenfalls, wenn man einen Hauch Demokratie durch dieses bürokratisch verstellte, labyrinthische Haus Europa wehen lassen wollte. Und wenn die EU, mitnichten Europa schlechthin, mehr sein soll als eine Kombination von Subventionstöpfen ungleicher Art, agrarisch akzentuiert; von Grenzbefestigungen nach außen und flotten rechtsüberlegenen Eurocops und Europols; wenn die EU also mehr sein sollte als ein gemeinsamer Markt, auf dem sich die Global Players bestens für den übereuropäischen Wettbewerb rüsten können. Aber die entscheidenden vier Grundfreiheiten der EU lauten ohnehin: Freiheit des Kapitals, Freiheit der Waren, Freiheit der Dienstleistungen und kapitalgebundene Freiheit der Arbeit.

Mit dem europäischen Demokratie-Defizit - immer nur als repräsentativ-demokratisches verstanden - steht es indes noch schlechter als mit dem repräsentativ-demokratischen der 15 Mitgliedsstaaten. Und dies, obwohl die EU seit Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) als riesiger marktdominierter Regierungskomplex das Leben der einzelnen schon sehr viel mehr bestimmt, als dies den unverändert nationalstaatlich und nationalsprachlich getrennten Bürgerinnen und Bürgern bewußt ist.

Darüber hinaus gilt seit dem ersten Januar 1999 die gemeinsame Währung, der Euro; dabei gewinnen quasistaatliche Befugnisse auch in anderen wichtigen Bereichen an Umfang und an Definitionskraft: in der Umweltpolitik, in der EU-weiten Innenpolitik u.ä.m.

Das Demokratie-Defizit der EU wird - von der hauptsächlich kapitalistischen Bestimmtheit des Geschehens einmal abgesehen - in ihren eigenen Institutionen offensichtlich: Die Exekutive dominiert. Das zum Teil schlechte, nämlich alle Übersichtlichkeit und Kontrolle blockierende Doppelpaßspiel des Ministerrats und der Brüsseler 20 Kommissariate ist der Ausdruck davon.

Angesichts der Mittel, die zu verteilen sind, und angesichts der erheblichen gesetz- und verordnungsgebenden Kompetenz der Brüsseler Exekutive ist Korruption, ist Fahrlässigkeit - wie etwa im Umgang mit verseuchtem Rindfleisch - kein persönlicher Fehler des zuständigen Kommissars oder der verantwortlichen Kommissarin, sondern strukturell bedingt.

Insofern ist es auch falsch, die meiste Schuld auf die Kommissariate zu schieben, die, im Rahmen der EU betrachtet, auch erhebliche Leistungen vorzuweisen haben. Erneut sind die einzelstaatlichen Regierungen und die Art, wie dieselben den europäischen Verschiebe-, Abschiebe-, und politischen Ersatzbahnhof gebrauchen, am meisten zu zeihen.

Welche Rolle nun spielt dabei das Europäische Parlament? Sicher, seine Bedeutung hat zugenommen. Es hat manchen wichtigen Bericht geliefert; es hat gerade ob seines Bedeutungsmangels manche akzeptable Erklärung von sich gegeben; es hat sogar am weichen und fürs erste institutionell konsequenzlosen Fenstersturz der letzten Kommissariate seinen Anteil.

Insgesamt gesehen ist das Parlament jedoch bei weitem mehr ein Ausdruck des Demokratie-Defizits, als daß es demselben abhelfen könnte - auch wenn mit der Zeit seine formellen Kompetenzen zunähmen. Die Juniwahlen können das europäische Demokratie-Defizit nicht beheben: Wer gewählt wird, ist ziemlich gleichgültig. Die Wahlen dienen allein der Legitimation, den europäischen Status quo weiter loben zu können. In diesem Sinne geben sie nur den Anschein von Demokratie.

Wolf-Dieter Narr ist Professor für Politische Wissenschaften an der FU Berlin