Prozeß gegen Öcalan auf Imrali

Der Verräter

Die revolutionäre Notlösung in Form einer Giftkapsel hätte er wenigstens in der Tasche haben sollen, als er festgenommen wurde, meint ein praktisch denkender Genosse. Andere verweisen auf Nelson Mandela, der dem System nie ein Zugeständnis gemacht habe. Einig sind sie sich, daß Öcalans Verhalten seit seiner Verschleppung in die Türkei unwürdig, feige, schlicht Verrat gewesen sei.

Zufrieden ist keiner mit dem PKK-Generalsekretär. Die deutschen Medien hätten sich schon etwas mehr Haltung von einem so einflußreichen Mann gewünscht, und der nationalistische Oberscharfmacher der Hürriyet, Emin Cölasan, stellte enttäuscht fest, daß hier einer seiner Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen sei. Die bürgerliche Seele sehnt sich nach Heldentum, und neben dem strahlenden Held gibt es immer auch den Schurken, der in seiner Schurkerei konsequent bleibt gerade im Zeichen des Untergangs. Abdullah Öcalan aber winselt um sein Leben und gesteht alles, was ihm die Cölasans in den letzten Jahren vorgeworfen haben. Zum krönenden Abschluß erklärt er die kurdische Nationalbewegung für einen Irrtum, bittet ringsum um Entschuldigung und ruft die Kämpfer auf, sich dem türkischen Regime zu unterwerfen.

Nicht schön, aber was hätte er tun sollen? Zum Helden taugt er nicht, und für welche Sache er als heroisches Beispiel ungebrochen in den Tod gehen sollte, ist nicht nur ihm schleierhaft. Wofür die kurdische Nationalbewegung in der Türkei eigentlich steht, vermögen die Funktionäre der PKK genausowenig zu bestimmen wie deutsche und türkische Linke, die fassungslos das Geschehen auf Imrali beobachten. Vergessen wir nicht: Seit 1993 überzieht die PKK die Türkei mit immer unterwürfigeren Verhandlungsangeboten. Vom ursprünglichen Separatismus blieb die Forderung nach ein bißchen kultureller Autonomie und vom Bolschewismus kurdischer Nationalchauvinismus. Da fehlte nicht mehr viel zur völligen Unterwerfung.

Merkwürdig aktuell wird vor diesem Hintergrund die Agitation der türkischen Chauvinisten, die Öcalan mit erheblichem moralischem Aufwand die 30 000 Toten vorrechnen, die der Feldzug der PKK auf beiden Seiten gekostet hat. Für sie wird Öcalan tatsächlich die Mitverantwortung übernehmen müssen. Fragt sich nur, mit welcher Begründung. Für Kurdisch-Unterricht an den Schulen und ein paar regionale Zugeständnisse? Dafür Leute zum Krieg aufgerufen zu haben, wäre allerdings ein Verbrechen von Ausmaß.

Aber war da nicht noch etwas mit Sozialismus und Befreiung? Lediglich ein zeitbedingter Irrtum, verkündet Öcalan heute. Weil in den siebziger Jahren, als er sich politisch zu betätigen begann, überall in der Türkei die Frage des revolutionären Volkskrieges diskutiert wurde, sei er befangen gewesen und auf gewalttätige Irrlehren hereingefallen. Heute würde er das nicht mehr wiederholen wollen. Schuld am Tod der 30 000 hat also nicht der kurdische Separatismus und schon gar nicht der türkische Staat, sondern der Kommunismus. Gerade den aber hat die PKK für die Agitation nie ganz aufgegeben. Weil allein für die Ehre der kurdischen Nation kein Bauernjunge ins lebensgefährliche Abenteuer geht, hat die PKK bis zuletzt mit dem Mythos der sozialen Befreiung kokettiert und wurde beim Wort genommen von denen, die ein besseres Leben als das Vegetieren in Armut und Dummheit sich erhofften. Sie alle, die jetzt völlig desorientiert in den Bergen oder in den Knästen sitzen, sind verraten worden von ihrer nationalchauvinistischen Führung.

Es ist heute noch das beste, daß der Chef dieser Partei so erbärmlich abtritt. Nützlicher als jedes Heldentum, das ja doch nur verlogene Pose angesichts des vorab liquidierten Projekts Befreiung gewesen wäre, ist der Kapitulant im Glaskäfig. Angesichts der Niederlage keinen Märtyrer verehren zu können, ist einzigartige Chance, aus dem Geschehen etwas zu lernen. Nicht daß der bewaffnete Kampf sinnlos sei, sondern daß er zu führen sei für eine kommunistische Welt. Das schließt die Erkenntnis ein, daß der Kampf gegen die kapitale Vergesellschaftung auch einer gegen autoritäre Selbsterniedrigung sein muß. Gelegenheit zu lernen, daß ein Genosse aus der Bewegung zu entfernen ist, der seine Tochter gegen ihren Willen verheiratet, daß der Feind nicht nur Polizeistiefel trägt, sondern gerne auch die feudale Landestracht.

Der Kampf für das persönliche Glück muß sich also zwingend auch gegen Kurdistan wenden, weil Kurdistan wie jede Nation wieder nur kollektives Unglück bedeutet.