Europa in der ersten Reihe

Bei dem Kölner EU-Gipfel präsentierte Schröder Pläne für den Ausbau der Union zur Militärmacht.

Der späte Triumph stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sichtlich zufrieden mit sich und der Welt präsentierte Bundeskanzler Gerhard Schröder den "Durchbruch" bei den Verhandlungen mit Jugoslawien auf dem EU-Gipfel in Köln. Der Frieden sei "zum Greifen nahe", erklärte er - um anschließend hinzuzufügen, welche Konsequenzen der "Friedens-Gipfel" (Express) aus dem Desaster auf dem Balkan gezogen hat: Den nächsten Krieg will Europa alleine führen - oder doch zumindest in eigener Regie.

Diese führte bisher - zumindest im militärischen Bereich - weitgehend der große Bruder auf der anderen Seite des Atlantik. Die Union verfügt zwar über eine gemeinsame Währung, selbst politische Institutionen wie das Europa-Parlament konnte sie mittlerweile halbwegs etablieren. Nur militärisch hat der zweitgrößte Wirtschaftsblock der Welt kaum etwas zu melden: Zwei Drittel des Militärapparates, der gegen Jugoslawien im Einsatz ist, werden von den USA gestellt. Den Rest teilen sich rund ein halbes Dutzend europäischer Staaten.

Das soll jetzt anders werden. Zumindest europäische Regionalkonflikte will die EU künftig auch ohne Beteiligung der USA lösen: "Gestützt auf ein glaubwürdiges Militärpotential" müsse die Union die "Fähigkeit zu autonomem Handeln" erlangen und "entsprechend den Erfordernissen des jeweiligen Falls (...) die Mittel und die Bereitschaft besitzen, diesen Einsatz zu beschließen", heißt es in der Erklärung des Europäischen Rates, die in Köln verabschiedet wurde. Dem Rat sollen alle "politischen, wirtschaftlichen und militärischen Instrumente" zur Verfügung stehen, "wenn es darum geht, auf Krisensituationen zu reagieren".

Doch die Bereitschaft zum bedingungslosen Friedenseinsatz nutzt wenig, wenn die Truppe nicht über die entsprechende Ausrüstung und Kapazität verfügt. Und diese werden bisher vor allem von den USA gestellt, die wegen ihrer enormen Verteidigungsausgaben und ihrer komplexen Rüstungsindustrie quasi über ein militärisches Monopol verfügen - zum Verdruß der Europäer.

Dies wollen die EU-Regierungschefs nun beenden; sie sprachen sich daher - vermutlich zum Entsetzen ihrer Finanzminister - nachdrücklich für höhere Militärausgaben und den Aufbau einer einheitlichen europäischen Rüstungsindustrie aus: "Wir sind entschlossen, die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien in den betroffenen Ländern zu fördern. Wir werden daher zusammen mit der Industrie auf eine engere und effizientere Zusammenarbeit der Rüstungsunternehmen hinarbeiten", steht dazu in der gemeinsamen Rat-Erklärung geschrieben.

Insbesondere die "Stärkung unserer Fähigkeiten in den Bereichen Nachrichtenwesen, strategischer Transport, Führung und Kontrolle" seien energisch voranzutreiben. Ein Militärausschuß, der sicherheitspolitische Empfehlungen ausspricht, sowie ein Militärstab sollen für die Umsetzung sorgen.

Für den nächsten Friedenseinsatz wollen die 15 Staats- und Regierungschefs außerdem ihre Entscheidungsstrukturen besser koordinieren und mit einer Stimme sprechen. Sie dürfte kaum zu überhören sein, denn sie wird einem Mann gehören, der seine Eignung dafür bereits ausgiebig bewiesen hat: Nato-Generalsekretär Javier Solana wurde zum "Mister Gasp" ernannt und soll ab Ende des Jahres die "gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik" repräsentieren.

Solana gilt neben seiner militärischen Erfahrung auch deshalb als geeignet, weil die USA die Ernennung eines deutschen oder französischen Kandidaten wahrscheinlich als Affront angesehen hätten; Solana hat als Nato-Chef bereits lernen müssen, nicht nur Brüssel, sondern auch Washington im Blick zu haben.

Dabei war sein Verhältnis zu den USA nicht immer ausgesprochen freundlich. Der ehemalige Madrider Physikprofessor, der 1995 zum Nato-Generalsekretär gewählt wurde, begann seine Politiker-Karriere in den sechziger Jahren als Student in der illegalen Opposition gegen die Franco-Diktatur. Nach einem Verweis von der Madrider Complutense-Universität studierte er u.a. in England und den USA, engagierte sich gegen den Vietnam-Krieg und trat den Sozialisten bei. Der "pragmatische Marxist", wie er sich damals selbst bezeichnete, kämpfte noch zu Beginn der achtziger Jahre gegen den Beitritt Spaniens in die Nato und forderte die Schließung der US-Stützpunkte. Nach dem Wahlsieg der Sozialisten 1982 stieg er in der Regierung von Felipe Gonz‡lez zum Chef des Erziehungs- und Kulturressorts auf, 1992 wurde er zum Außenminister ernannt.

Ein Amt, das ihm vieles abverlangte. "Man stellt sich im Leben immer wieder dieselben Fragen; was sich ändert, sind die Antworten", zitiert er gerne den mexikanischen Dichter Octavio Paz. Die neuen Antworten hatte er bald gefunden. Nach dem Dayton-Vertrag von 1995 war er als frisch gekürter Nato-Generalsekretär wesentlich an der Einsetzung der 60 000 Mann starken Sfor-Truppe in Bosnien beteiligt, zwei Jahre später wurde unter seiner Führung die Nato-Ost-Erweiterung beschlossen. Als am 23. März dieses Jahres in Berlin die Staats- und Regierungschefs der EU tagten, gab er den Einsatzbefehl zur Bombardierung Jugoslawiens.

In seinem neuen Amt wird er auf solche Befehle wohl vorerst verzichten müssen. Denn Solana wird als erster Repräsentant der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Vergleich zur Nato zunächst nur über bescheidene Mittel verfügen.

Bis die Mitgliedsstaaten ihre militärischen und industriellen Kapazitäten soweit ausgebaut haben, daß sie zumindest in Europa notfalls auch ohne die Nato für Ordnung sorgen können, wird noch einige Zeit vergehen. Das europäische Airbus-Konsortium beispielsweise befindet sich - allen Regierungsverlautbarungen zum Trotz - wegen internen Gerangels in einer Dauerkrise. Selbst der Bau eines gemeinsamen europäischen Transportflugzeuges in naher Zukunft scheint daher fraglich.

So wird sich Solana mit seinem Stellvertreter, dem Franzosen Pierre de Boissieu, und einem bescheidenen Stab von 20 Mitarbeitern noch eine Weile anderen Aufgaben zu widmen haben. Der Ausbau der Union zum Militärbündnis ist vor allem für die neutralen EU-Mitglieder Österreich, Finnland, Schweden und Irland, aber auch Nato-Mitglied Dänemark eine Schreckensvision. Die Regierung in Stockholm plädierte z.B. bisher ausschließlich für humanitäre Einsätze und will ihre Soldaten nur für vergleichsweise harmlose Einsätze wie Minenräumen zur Verfügung stellen. Auch die griechische Regierung, die im eigenen Land mit heftiger Kritik an dem Krieg im Kosovo zu kämpfen hat, zeigte sich weder von der Wahl Solanas noch den militärischen Ambitionen der Union begeistert.

Ebenfalls kompliziert ist die Situation mit den Nato-Ländern Norwegen und Türkei. Diese sind zwar nicht in der EU, aber über die Westeuropäische Verteidigungsunion (WEU), die nächstes Jahr in die Union übergehen soll, in deren militärischen Strukturen eingebunden.

Obwohl daher noch viele Schwierigkeiten auszuräumen sind, ist der beschlossene Ausbau der Union eine historische Zäsur - schließlich haben die europäischen Staaten fast ein halbes Jahrhundert an diesem Schritt gearbeitet. Schon einmal, 1952, wurde in Paris die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft beschlossen, in der die nationalen Streitkräfte von Frankreich, Italien, den Benelux-Staaten und Deutschland unter einem Oberbefehl integriert werden sollten; das Vorhaben scheiterte wegen französischer Bedenken gegen einen Souveränitätsverzicht. Danach beschränkte man sich lange Zeit auf ökonomische Aspekte: Fünf Jahre später wurde mit den Römischen Verträgen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet.

Die gemeinsame Wirtschaftszone bildete jedoch die Grundlage für den Ausbau der Union in eine politisch-militärische Allianz. Die Entscheidung für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sei von gleicher Bedeutung wie die Einführung des Euro, verkündete Bundeskanzler Schröder daher schon im Vorfeld des Gipfels stolz.

Mit der Kür des "Mister Gasp" und den Friedensverhandlungen konnte er die deutsche Ratspräsidentschaft doch noch mit einem persönlichen Triumph beenden, denn in allen anderen Streitfragen wie Beschäftigung und EU-Ost-Erweiterung ist auf dem Gipfel wenig herausgekommen - außer einigen belanglosen Erklärungen.

"Wagt jetzt noch einer Kritik zu üben an diesem Kanzler, diesem Außenminister und den Erfolg der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in Zweifel zu ziehen?" fragt beeindruckt der Berliner Tagesspiegel. So kann man den Kölner Erfolg auch verstehen: Wenn es um Krieg und Frieden geht, wollte Deutschland schon immer in der ersten Reihe sein.