Seifenoper auf allen Kanälen

Während Öcalan verzweifelt eine politische Lösung des Kurdenkonflikts orschlägt, überbietet sich die türkische Öffentlichkeit in Patriotismus

"Wir sind hier oft einfach sprachlos, die Schere der Zensur setzt bereits im eigenen Kopf an", seufzt Oral Çalõslar, ein bekannter Verfasser von Hintergrundreportagen und einer täglichen Kolumne in der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet. Wie die meisten Kollegen haßt er vor allem die Fernsehberichterstattung über den Prozeß gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan in der Türkei. Täglich werden dort die Angehörigen von im Kampf gegen die PKK gefallenen Soldaten vorgeführt. In Bussen werden sie zum Küstenort Mudanya gekarrt, um Sühne von Apo, dem "Babymörder", zu fordern.

"Wissen Sie, das Leid dieser Leute ist so echt, daß es mir schwerfällt, die gezielte Einsetzung dieser Schicksale in diesem Prozeß, der dadurch zum Schauprozeß degradiert wird, als Show anzukreiden", versucht Çalõslar seine Gefühle zu beschreiben.

Dabei ist er kein Mann, der sich fürchten würde, abweichend von der offiziellen Berichterstattung zu informieren. Vier Bücher hat Çalõslar mittlerweile im Gefängnis geschrieben. Insgesamt sieben Jahre hat er wegen seiner sozialistischen Überzeugung, die sich anders als bei der PKK nie mit Gewalt vereinbaren ließ, hinter Gittern verbracht. Doch erst nach dem fünften Prozeßtag ist er in der Lage, das Offensichtliche zu formulieren: In der vergangenen Woche wurde die wichtigste politische Frage in der Türkei wie in einer billigen Seifenoper in TV-Sendungen und Zeitungsschlagzeilen präsentiert.

Der türkischen Öffentlichkeit wurde ein um sein Leben winselnder Apo gezeigt, der alles und jeden verrät, um dem Strick zu entgehen. Die Schicksale der Angehörigen der gefallenen Soldaten, die in dem Prozeß als Kläger auftreten, und von denen jeden Tag 38 an den Verhandlungen teilnehmen, werden exemplarisch ausgeschlachtet, um den Haß auf die furchtbaren Ereignisse des seit fünfzehn Jahren andauernden Konfliktes auf die Person Apo zu projizieren.

Eine Strategie, die Erfolg verspricht - nicht nur bei einfacheren Gemütern, die Mehrheit der Türken wiegt sich zur Zeit in der Illusion eines Sieges, der mit der Aburteilung Öcalans gefeiert wird. Nie sah man so viele nationale Symbole in Form von Wimpeln und Fahnen, die sich Leute an ihr Auto hängen oder auch schon einmal als Anstecknadel an den Kragen heften. Im Küstenort Mudanya vor der Gefängnisinsel Imrali sind große türkische Fahnen an jeder Ecke erhältlich.

Es ist alles andere als einfach, sich von diesem Prozeß ein Bild zu machen, denn täglich werden nur zwanzig Journalisten als Beobachter zugelassen. TRT, der einzige türkische TV-Sender, der aus dem Gerichtssaal berichten darf, sendet nur Ausschnitte des Prozesses, so daß die in Mudanya wartenden Berichterstatter nur sehr bruchstückhafte Eindrücke von dem Verfahren erhalten.

Selbst das für das Verfahren von den Anwälten Öcalans eingerichtete Büro "Asrõn" verfolgt die Nachrichten tagsüber von den Bildschirmen, erst am Abend kann Kontakt mit den Anwälten aufgenommen werden. Mükrime Tepe, die Schwester eines 1993 im südostanatolischen Bitlis von Polizisten zu Tode gefolterten kurdischen Kollegen, ist eine der Verteidigerinnen Öcalans.

Am fünften Verhandlungstag hat sie sich nicht mehr beherrschen können: In dem Konflikt habe es nicht nur Verluste auf seiten der Soldaten gegeben, schrie sie den Vertreter der Anklage, Mehmet Çevket Özbay an. Der Rechtsanwalt ist als Verteidiger der Polizisten, die für den Mord an dem Journalisten Metin Göktepe angeklagt werden, bekannt und steht der rechtsradikalen Nationalen-Bewegung-Partei nahe.

Die junge Frau von Anfang zwanzig, mit Abstand die jüngste unter dem Heer von hundert Anwälten, die den PKK-Führer vertreten, sieht abgespannt und müde aus. Die zwölf an der Verhandlung teilnehmenden Anwälte müssen sich selbst oft als Angeklagte fühlen. Schon vor Beginn des Prozesses wurden sie von den zu ihrem Schutz beorderten Polizisten in Ankara auf offener Straße verprügelt. In Mudanya selbst können sie sich nicht aufhalten, da sie und die ebenfalls anwesenden Angehörigen Abdullah Öcalans Ziel "spontaner" Demonstrationen sind. Am vergangenen Donnerstag schauten Polizisten amüsiert dabei zu, wie eine Gruppe Aufgebrachter die Anwälte vor ihrem Hotel in Bursa beschimpfte und die Familienangehörigen Öcalans ohrfeigte.

"Es ist entwürdigend", erregt sich Mükrime Tepe, "diese Leute ständig um sich herum ertragen zu müssen." Trotzdem versucht die Anwältin, ihr persönliches Leid nicht mit in diesen Konflikt zu tragen. "Ich teile das Leid jedes Angehörigen von Opfern in diesem Krieg", erklärt sie aufgebracht, "aber die Leute, mit denen wir in diesem Prozeß konfrontiert werden, sind alle auf Blut und Rache erpichte Schreihälse, die man zu diesem Zwecke ausgesucht hat."

Der Vorsitzende Richter, Mehmet Turgut Okyay, setzte am vergangenen Freitag ein wichtiges Zeichen, indem er Mehmet Çevket Özbay des Saales verwies, als er den Verteidiger Kemal Bilgi ç niederzuschreien versuchte, der einen Friedensaufruf des PKK-Zentralkomitees verlas.

Öcalan und seine Anwälte erklärten am ersten Prozeßtag, daß sie eine politische Verteidigung durchführen werden: Öcalan übernimmt die Verantwortung für alle Taten der PKK, will diese jedoch nicht als terroristische Akte, sondern als Teil von Kampfhandlungen eines Krieges zwischen türkischem Militär und Guerilla verstehen.

Der PKK-Führer ist sichtlich abgemagert, und die Einzelhaft hat ihre Spuren hinterlassen. Er wirkt tatsächlich nicht mehr wie der Mann, der noch vor kurzem über Leben und Tod in seiner Organisation entschied. Aber eins ist sicher: Auch Öcalan weiß, daß es nicht darum gehen kann, ob er gehängt wird oder nicht. In diesem Sinne benutzt er teilweise verwirrende Sätze wie: "Ich bin bereit, dem türkischen Staat zu dienen" oder: "Ich teile das Leid der Angehörigen der gefallenen Soldaten".

Öcalan versucht, mit seinem Prozeß eine Lösung der Kurdenfrage in der Türkei anzustreben, und ruft dazu auf, die kurdische Ethnie anzuerkennen und ihr kulturelle Rechte in einer demokratischen türkischen Republik zu gewähren. Auch das PKK-Zentralkomitee hat sich hinter den Aufruf Öcalans gestellt.

Interessanterweise sind seine Appelle mit einer klaren Distanzierung von Europa verbunden. Tief sitzt die Enttäuschung über den Verrat Griechenlands bei seiner Festnahme und die Ablehnung aller europäischen Staaten, ihn aufzunehmen.

Ob die türkische Regierung die historische Chance für eine friedliche Lösung des Konflikts nutzen wird, bleibt abzuwarten. An einem juristischen Todesurteil für Öcalan zweifelt zur Zeit niemand. Es bleibt zu hoffen, daß parallel zu dem Prozeß eine politische Lösung gefunden wird, die eine Vollstreckung des Urteils überflüssig machen würde.