So werde ich Kulturpessimist

Das Schulbuch zum Begriff: Heinz Steinerts Einführung in die "Kulturindustrie"

Die Lektüre von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers "Dialektik der Aufklärung" hat Tausende linker Studenten in Verzückung gebracht und Scharen von Jung-Akademikern zu waschechten Kulturpessimisten gemacht, die glauben, ohne Fernsehen, Kaugummi und Comics lebten wir in einer besseren Welt - vielleicht einer Welt der Hochkultur unter der Kuratel linker Gymasiallehrer, die fortwährend die Gesellschaft kritisieren!

Sparen Sie sich Gesellschaftskritik, rät dagegen Heinz Steinert in seinem Buch "Kulturindustrie". Steinert, der 56jährige Professor der Soziologie in Frankfurt, Leiter des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien, sagt: Legen Sie Ihr Krisenbewußtsein lieber woanders, weil zinsbringender an - in selbstreflexiver Betrachtung der eigenen Begrifflichkeiten. Denn kritisch sei heute alles und jeder, der Kult der Empörung, des Protestes werde von gesellschaftlichen Gruppierungen aller Art kultiviert, selbst dann noch, wenn sie als Partei an der Regierung seien.

Als Arbeitsgrundlage dient Adornos und Horkheimers Text "Kulturindustrie" aus der "Dialektik der Aufklärung". Steinert unterzieht die vor allem Adornos zugeschriebenen Thesen zur Kulturindustrie und ihre Rezeption einer eingehenden Betrachtung. Auch heute noch trainierten Legionen deutscher Kopfarbeiter und Jazzmusiker ihr schlechtes Gewissen an Adornos apodiktischen Forderungen.

Steinert beginnt mit einer Analyse der bürgerlichen Kultur um die Jahrhundertwende und endet bei den heutigen Zuständen. Daraus habe sich das Verdikt elitärer Bildungsbürger entwickelt: "Adorno war (und ist) nicht einfach ein weiterer jener mehr oder weniger kunstvoll kompliziert schreibenden und sprechenden Professoren, er wurde vielmehr als einer genommen, der etwas darüber zu sagen hat, wie zu leben sei - und das gerade angesichts seines vielleicht berühmtesten Aphorismus, der sich am Rand des Scherzwortes bewegt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen."

Adorno, wiewohl selbst akademischer Schauspieler, sei für die Betriebsunfälle und die Verflachung seiner Rezipienten, nur bedingt verantwortlich. "Kulturindustrie" werde heute in der Regel mit dem Fernsehen gleichgesetzt. Der Begriff diene in neueren Diskussionen als Beleg für den Niedergang der hohen Kultur, der Verschlampung und Vermassung des modernen Menschen insgesamt, so daß er schließlich beliebig den zahlreichen Botschaften der Medien hilflos ausgeliefert sei - das Individuum als Pawlowscher Kopfnick-Dackel, so jedenfalls führten das die besonders kritischen Geister wie Neil Postman, Norbert Bolz und Reinhard Mohr vor.

Der historische Ursprung solchen Kulturpessimismus sei durchaus in Adornos Extrem-Ansprüchen zu sehen. Sie "waren eine hervorragende Orientierung für die neue Generation von Gebildeten, die damit immer noch einen Vorteil gegenüber den Bildungs-Aufsteigern behielten - und davon gab es in den sechziger Jahren, dem Jahrzehnt der anlaufenden Bildungsoffensive, ziemlich viele. Die spätere Dogmatisierung im Namen von Marx, Sekten-Disziplinierung und Intellektuellen-Abwertung kann in dieser Konkurrenz auch als Versuch der Aufsteiger gesehen werden, Inhalte und Orientierungen verbindlich zu machen, die den Vorsprung der Alt-Gebildeten endlich aufhoben.

Das gilt noch mehr für die nachfolgende feministischen und ökologischen Kultur- und Theorie-Abwertungen, gar nicht zu reden von der gegenwärtigen Spaßkultur, in der Expertentum in TV-Serien, Sportergebnissen, neuesten Moden und Werbegags viel wichtiger ist als die Kenntnis von weltfremden Philosophemen und strengen Künsten, bei denen es nichts zu lachen gibt. Adornos moralische Autorität ging verloren, weil mit hochgezüchteter Hochkultur-Kompetenz niemand mehr zu beeindrucken ist."

Entweder seien in der Medienkritik Medien das Böse schlechthin oder die Autoren verteidigten ihr "Recht" auch auf das Sehen von Nachmittags-Talkshows. Immer aber bleibt da die Selbst-Rechtfertigung, an der das größtmögliche Publikum teilhaben habe. Die vermeintlich schwierig zu begreifenden Thesen Adornos rezipieren und sich ein negatives Weltbild daraus zu basteln - das sei heute affirmative Regression als imaginäre Gefahrenabwehr.

Steinert greift auf den Befund der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno zurück und liefert eine behutsame Neu-Interpretation dieses Grundlagentextes. Dabei fragt er zum einen nach den gesellschaftlichen Voraussetzungen von Kultur und Kulturindustrie und thematisiert den historischen Prozeß, der mit der technischen Reproduzierbarkeit der Kulturprodukte in die Warenförmigkeit münde: Wie setzen sich unterschiedliche Menschengruppen mit den ihnen eigenen Lebensweisen den medialen Prozessen aus, wie konsumieren sie?

Fallbeispiele sollen belegen, daß es sich bei Kulturindustrie und ihrer Analyse weniger um einen "Verblendungszusammenhang" als um eine Dimension der Vergesellschaftung handelt, an der es noch viel zu erkennen gilt. Dazu dienen Steinert popkulturelle Produkte wie Clint Eastwoods Film "Absolute Power" oder der Rummel um den Tod der Diana Spencer.

Steinerts Ergebnis: "Kulturindustrie ist eine Dimension von Vergesellschaftung und geht jeden Sozialwissenschaftler, tatsächlich jeden in seiner Eigenschaft als Kopfarbeiter etwas an." Und um deren Selbstverherrlichung drehe sich ja nun die ganze Branche: Medienberufe seien so banal wie andere auch, wer nicht selbst zu den Schönen und Reichen gehöre, wolle sie wenigstens kritisieren. Wobei die Perspektive der Kritik die "Sicht des distanzierten Amateurs" sei.

Die Medienarbeiter seien also nie richtig dabei, ihre Produkte seien eben auch nur "Dienstleistungen mit einem besonders hohen Gehalt an Selbstdarstellung". Steinert hält eine Rückbesinnung auf die rein wissenschaftliche Reflexion nicht für möglich - auch dieser Begriff habe Schaden genommen und bedürfe selbst der Untersuchung. Kritisches Bewußtsein bedeute nun, sich mit seinen eigenen Voraussetzungen zu beschäftigen. Hinter diesem Gedanken halte sich - mit allen Einschränkungen - ein emanzipatorischer Ansatz verborgen.

Steinert erweist sich als Kriminologe des Kulturdiskurses und beschreibt mit Leichtigkeit wie Genauigkeit die verschiedenen Debatten und Mikrodebatten medientheoretischer Art. Ein wunderbares Buch. Aber was auf keinen Fall fehlen darf, ist auch hier die Selbststilisierung des Autors. Das Vorwort liefert er als autobiographischen Einstieg ab. Da flucht er auf die Institutionen und den offiziellen Bildungsweg. Er habe nur schlechte Lehrer gehabt, lediglich die Volksschullehrerin habe ihm das Schwarzsehen beigebracht. Und geschrieben hat er das "im letzten Waggon des EC 29, kurz nach Platting, am 9.2.98".

Der von der Gesellschaft genervte Autor, das autonome schreibende Individuum, das seinen Sprechort verhandelt - da ist es wieder, das Identifikationspotential für den frustierten Einstiegsakademiker. Stört das? Nein. Steinert ist auch ein guter Unterhalter. Denn, wie man bei ihm lernen kann: Dem kulturindustriellen Komplex kann sich niemand niemals entziehen.

Das heißt: Auch der Rezensent nicht. Den der vorliegende Text viel Kraft kostete. Denn im geheimen hoffe ich: Möge Steinerts Glanz auf mich fallen, wenn ich über sein Buch schreibe. Das ist mindestens Diskursplateau Nummer drei!

Gewarnt vor dem Desaster, daß Dialektik nicht alles sei, hat der Verlag: Nicht zwei, sondern drei hintereinander angeordnete Masken zieren den Buchdeckel. Die Welt ist nicht nur zum Verzweifeln, sondern oft genug zum Verdreifeln.

Heinz Steinert: Kulturindustrie. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 1998, 218 S., DM 29,80