Manifest der Turbosozis

Die Schröder-Blair-Connection brüskiert Jospin und definiert die Sozialdemokratie neu: Als Partei der Wirtschaftsliberalen

Daß hatte sich Guido Westerwelle wohl in seinen kühnsten Träumen nicht erhofft. Der smarte Liberale, dessen Partei gerade bei den EU-Wahlen in die Bedeutungslosigkeit absackte, ist sich seit vergangener Woche sicher, über die ideologische Oberhoheit in Europa zu verfügen. New Labour- Chef Tony Blair sei schon ein echtes Mitglied der FDP und "auch Gerhard Schröder kann sich bewerben, wenn er Wort hält", verriet er dem Berliner Tagesspiegel. Der Grund für Guidos große Freude: das "neoliberale Manifest der Turbosozialisten".

Der britische Premierminister Blair und der deutsche Bundeskanzler Schröder hatten in London ein gemeinsames Papier mit dem Titel "Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten" vorgestellt. Und das las sich tatsächlich in weiten Teilen wie aus einem marktliberalen Parteiprogramm abgeschrieben.

In der Vergangenheit "war der Weg zur sozialen Gerechtigkeit mit immer höheren öffentlichen Ausgaben gepflastert, ohne Rücksicht auf Ergebnisse oder die Wirkung der hohen Steuerlast auf Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung oder private Ausgaben", heißt es darin. Damit nicht genug, habe die Sozialdemokratie die "Werte, die den Bürgern wichtig sind - wie persönliche Leistung und Erfolg, Unternehmergeist, Eigenverantwortung und Gemeinsinn - zu häufig zurückgestellt hinter universelles Sicherungsstreben."

Dabei galt dieses "Sicherungsstreben" einmal als Hauptanliegen der Nachfolger von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Die "moderne Sozialdemokratie" hat jedoch ein anderes Ziel: Sie will Arbeitsplätze schaffen - und zwar um jeden Preis. "Dies bedeutet, die Regulierungslast zu verringern und die Lohnkosten zu senken"; Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit seien "besser als gar keine Arbeit", behaupten Blair und Schröder. Denn "der Arbeitsmarkt braucht einen Sektor mit niedrigen Löhnen, um gering qualifizierte Arbeitsplätze verfügbar zu machen".

Was "links" sei, dürfe nicht ideologisch eingeengt werden, fordern die beiden Genossen, um bei der Gelegenheit den alten Begriff gleich neu zu interpretieren. "Links" bedeute demnach auch, bessere Bedingungen für die Wirtschaft zu schaffen, "notwendige Kürzungen der staatlichen Ausgaben" durchzuführen und den öffentlichen Sektor "radikal" zu modernisieren. Die Linke müsse "eine neue angebotsorientierte Agenda formulieren und umsetzen".

Angebotspolitik, radikale Sparprogramme, Abschied vom Etatismus - die Sozialdemokraten als progressiver Flügel der Unternehmerverbände? Für traditionelle Sozialdemokraten ist das Coming-out von Schröder und Blair als radikale Liberale ein Schlag ins Gesicht. Die Parteilinken, Jusos und große Teile der Gewerkschaften waren sich daher schnell einig, daß der Dritte Weg vor allem eines bedeutet: die Aufgabe der sozialdemokratischen Tradition.

Die plötzliche Aufregung ist erstaunlich, sind doch die Thesen weder neu noch besonders originell. Kanzleramtsminister Bodo Hombach, der das Papier zusammen mit dem ehemaligen britischen Industrie- und Handelsminister Peter Mandelson im wesentlichen formulierte, hat die "Vorschläge" bereits vor einem Jahr in einem Buch beschrieben. Das Vorbild des radikalen Liberalen war schon damals der erfolgreiche Dritte Weg von Tony Blair.

Dessen größte Leistung besteht vor allem darin, fröhlich lächelnd die Politik Margaret Thatchers fortzusetzen. Die britischen Konservativen hatten bereits Ende der siebziger Jahre ein ultraliberales Wirtschaftsprogramm durchgesetzt und die Gewerkschaften zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Heute verfügt Großbritannien über den dereguliertesten Arbeitsmarkt in Europa.

Ein weiteres Vorbild entdeckte Hombach im niederländischen Modell. Zu Beginn der neunziger Jahre hatte dort Wim Kok, Chef der Partij van der Arbeid, mit dem "Akkord von Wassenaar" das sogenannte "Poldermodell" erfunden. Die Gewerkschaften erklärten sich mit Lohnverzicht und einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten einverstanden. Im Gegenzug garantierten die Unternehmer Neueinstellungen. Tausende Mitglieder verließen daraufhin die Partei; der "Akkord" reduzierte nicht nur die Arbeitslosenzahlen, sondern auch die Löhne und die Sozialausgaben. Dafür erhielt Kok von anderer Seite breite Unterstützung: Bei der letzten Parlamentswahl im Mai 1998 sprachen sich drei Viertel aller Unternehmer für seine Wiederwahl aus.

Das niederländische Erfolgsmodell machte Schule. Auch in Dänemark setzte die sozialliberale Koalition auf eine "moderne Wirtschaftspolitik" und den sanften Zwang zur Arbeit. Ähnlich wie in den Niederlanden vereinbarten Regierung, Gewerkschaften und Unternehmen eine gemeinsame Arbeitsmarktpolitik. Der Staat garantiert innerhalb eines Jahres einen neuen Job, der dann unabhängig von Ort und Art der Arbeit anzunehmen ist. Wer das nicht akzeptiert, erhält keine Arbeitslosenhilfe mehr. Ähnliche durchgreifende Ideen wurden in Blairs "welfare to work" oder Schröders "Sofortprogramm für Ausbildung und Arbeit" bereits umgesetzt. Auch in Schröders "Bündnis für Arbeit", das der Bundeskanzler gerne in ganz Europa implementieren möchte, finden sich wesentliche Elemente des Poldermodells wieder.

In den anderen EU-Mitgliedsländern stießen diese Maßnahmen jedoch auf wenig Begeisterung. So halten die spanischen Sozialisten wenig von den angekündigten "Modernisierungen", ebenso wie etwa die schwedischen Sozialdemokraten. Am stärksten wird das Papier jedoch in Frankreich abgelehnt. "Wir entscheiden in Frankreich selbst, auf der Basis eigener Ideen", erklärte Regierungschef Lionel Jospin nach Veröffentlichung des Papiers. Vermutlich hat er trotz der diplomatischen Formulierung innerlich gekocht - die Präsentation der "Vorschläge" direkt vor den Europawahlen konnte er nur als Affront verstehen. Denn während die französischen Sozialisten mit ihrem "modernen Reformismus" die sozialpolitischen Konsequenzen der gemeinsamen Währungsunion abmildern wollen, besteht bei New Labour und Neuer Mitte weitgehend Konsens über die "Notwendigkeiten" von Sozialabbau, Billiglohn und kommunaler Zwangsarbeit.

Die Kampfansage wird daher nicht nur zu einem weiteren Tiefpunkt im deutsch-französischen Verhältnis führen. Vor allem in der deutschen Politik bündeln sich die europäischen Widersprüche. Setzte Deutschland bei der Euro-Einführung noch voll auf Frankreich, verbündet sich Schröder jetzt in der Sozial- und Wirtschaftspolitik mit Großbritannien. Doch die Briten machen beim Euro noch gar nicht mit, während sich Paris die Option nationaler Alleingänge offenhält. Die Koalitionsregierung unter Jospin hat derzeit auch gar keinen Grund, der Schröder-Blair-Connection zu folgen. Das Wachstum in Frankreich ist derzeit ungefähr doppelt so hoch wie in Deutschland und Großbritannien.

Schließlich habe selbst Blair so "sozialistische Maßnahmen wie den Mindestlohn" eingeführt, spöttelt Jospin, um seine Genossen an ihr eigenes Selbstverständnis zu erinnern. Das Gewäsch von gestern könnte bald vergessen sein. Es sei "nicht seriös, im Herbst 1998 gegen 'soziale Kälte' zu Felde zu ziehen, um im Frühjahr 1999 die Sozialdemokratie zu verabschieden", kritisiert das Handelsblatt.

In der Mitte wird es nun reichlich eng. Denn zumindest in Deutschland gibt es bereits eine Mega-Koalition in der Wirtschaftspolitik. Konservative, Grüne, Liberale und die modernisierten Sozialdemokraten streiten sich vornehmlich nur noch in der Frage, wer am effizientesten für die Umsetzung der modernen Wirtschaftspolitik sorgt. So könnte Norbert Blüm bald als Fundamentalist, als letzter sozialpolitischer Radikaler erscheinen. Kein Wunder, daß es selbst dem Handelsblatt vor dieser Zukunft graut.