Norman Paech

»Unheilbar rechtsstaatswidrig«

Norman Paech, Völkerrechts-Professor an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik, ist Berater der Anwälte und Beobachter im Öcalan-Prozeß. Zusammen mit prominenten Vertretern der internationalen Initiative "Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan", der u.a. auch die Witwe des ehemaligen französischen Staatspräsidenten, Danielle Mitterrand, sowie der israelische Schriftsteller Uri Avneri angehören, fordert Paech ein rechtsstaatliches Verfahren gegen den inhaftierten PKK-Chef vor einem internationalen Gerichtshof.

Sie bezeichnen den Prozeß gegen Abdullah Öcalan als "unheilbar rechtsstaatswidrig" und nicht vereinbar mit geltendem Völkerrecht. Weshalb?

Ich bin der Ansicht, daß das Verfahren nicht einmal im Einklang mit türkischem Recht steht. Einer der gravierendsten Verstöße ist, daß der ganze Prozeß von einem Krisenstab geführt und kontrolliert wird. Dieser per Gesetz erlassene crisis desk wird von Militärs und Regierungsbeamten gestellt und kann in vier Fällen eine Region zum Sperrgebiet erklären: bei Naturkatastrophen, Nuklearunfällen, größeren Bevölkerungsbewegungen und im Falle ökonomischer Krisen. Dieses Gesetz wurde nun angewandt, um die Insel Imrali zum Sperrgebiet zu erklären.

Dadurch hat der Krisenstab alles an sich gerissen. Nicht das Gericht, sondern der Krisenstab bestimmt die Isolationsbedingungen der Gefangenen. Auch der Zeitpunkt und die Dauer der Gespräche der Anwälte mit Öcalan wurden vom Krisenstab und nicht vom Gericht entschieden.

Wie drückt sich der Einfluß des Krisenstabs noch aus?

Bei allen Unterredungen der Anwälte mit Öcalan waren stets maskierte Sicherheitsbeamte anwesend und es war nie ein Gespräch unter vier Augen möglich - ein weiterer Verstoß gegen das türkische Strafprozeßrecht. Diese Beamten waren auch zugegen, als die Verteidiger wegen der Prozeßvorbereitung Gespräche mit den Richtern führten. Sie haben die Richter zu Statisten degradiert, mit der Folge, daß zwei von ihnen den Saal verließen, weil sie sowieso nichts zu sagen hatten. Die Gespräche wurden also praktisch zwischen Krisenstab und Rechtsanwälten geführt.

Darüber hinaus entscheidet der Krisenstab auch, wer auf die Insel gelassen wird und wer nicht. Außerdem besagen die sogenannten Grundprinzipien über den Status von Verteidigern, daß ein noch nicht angeklagter Angeschuldigter spätestens nach 48 Stunden einen Rechtsbeistand erhalten muß. Dies ist im Fall Öcalan ebenfalls nicht eingehalten worden. Und auch nach türkischem Recht muß nach vier Tagen isolierter Vernehmung ein Rechtsanwalt beigezogen werden, was hier allerdings erst nach neun Tagen der Fall war. Ferner schreibt Artikel 6 der Europäischen Charta für Menschenrechte ein faires und gerechtes Verfahren vor. Das sind alles Beispiele dafür, wie sowohl türkisches als auch internationales Strafverfahrensrecht im Fall Öcalan verletzt wurde.

Wie rechtfertigt denn die türkische Justiz die Teilnahme eines Militärrichters an dem Prozeß?

Hierzu muß man das politische Kräfteverhältnis in der Türkei berücksichtigen. Zunächst einmal haben Demirel und Ecevit das Gericht aufgefordert, den Prozeß vorerst auszusetzen und abzuwarten, wie das Parlament entscheidet. Dies wurde jedoch vom Gericht abgelehnt. Die Politik wird vom Militär bestimmt. Bei der türkischen Militärdemokratie, das heißt bei der Verfilzung von Politik und Militär, verhält es sich nicht etwa so, daß beide als gleichberechtigte Partner auf der politischen Bühne präsent sind. In der Türkei haben vor allem der nationale Sicherheitsrat und die Generalität das Sagen. Außerdem erhält die Türkei ihren größten internationalen Schutz von den USA - und die gehen ja mit der Todesstrafe bekanntlich auch nicht gerade zimperlich um. Also, wer auch immer den Militärrichter stellt - letztlich entscheidet das Militär in dieser Frage.

Nun gab es ja auch in der Türkei Diskussionen um die Präsenz eines Militärrichters in dem Spruchkörper.

Der Generalstaatsanwalt hat im Vorfeld des Prozesses gesagt, die Anwesenheit des Militärrichters würde ja nicht stören, zumal gegen das Urteil sowieso Berufung eingelegt werden würde und das Kassationsgericht ein ausschließlich ziviles Gericht sei, das den Prozeß dann beurteilt. Ferner wird argumentiert, daß die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom vergangenen Jahr für die Türkei nicht bindend sei. Das sieht der Gerichtshof aber ganz anders, denn die Türkei ist als Mitglied des Europarats gleichzeitig auch an die Rechtsprechung gebunden.

Und das dritte Argument, das vom Gericht angeführt wird, ist, daß derzeit ein verfassungsänderndes Gesetz im Parlament diskutiert wird, das die gesamte Struktur des Staatssicherheitsgerichts verändern soll. Solange dieses jedoch noch nicht verabschiedet ist, werde man weiter in alter Besetzung tagen. Sollte es zu einer Gesetzesänderung kommen, sei vorsorglich ein ziviler Ersatzrichter im Gerichtssaal anwesend. Das ist allerdings nicht zulässig, denn der Europäische Gerichtshof hat von Anfang an ein solches Sicherheitsgericht mit einem Militärrichter als Verstoß gegen Artikel 6 qualifiziert.

Haben diese Umstände Öcalan dazu veranlaßt, auf seine Anwälte zu verzichten und künftig nur noch für sich selbst sprechen zu wollen?

Öcalan war der Militärrichter insofern gleichgültig, als er seinen Prozeß schon zu Beginn als illegitim bezeichnet hat. Er behauptet, daß erstens seine Entführung völkerrechtswidrig gewesen ist, zweitens die Haftbedingungen gegen europäisches Recht verstoßen und drittens seine Anwälte an ihrer Arbeit gehindert werden. Wegen der großen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Prozesses hat er dann beschlossen, sich selbst zu verteidigen, allerdings nur politisch. Öcalans Anwälte standen dem Verfahren bisher recht hilflos gegenüber und veranstalten im Grunde nur ein juristisches Schattenboxen. Auch wenn alle Verteidiger ihr Mandat niederlegten, würde dadurch der Prozeß nicht aufgehalten oder gar platzen. Man muß im Auge behalten, daß es sich hierbei um einen Schauprozeß handelt.

Halten Sie die Todesstrafe für wahrscheinlich?

Ja, ich halte es für so gut wie sicher, daß das Todesurteil kommen wird. Das ist auch allen bewußt. Die ganze aufgeheizte öffentliche Meinung fordert geradezu die Todesstrafe. Daß zwei PKK-Aktivisten vor kurzem zum Tode verurteilt worden sind, obwohl sie sich als Kronzeugen gegen Öcalan angeboten haben, war bereits ein Vorgeschmack auf das, was im Fall Öcalan noch kommen wird.

Könnte das drohende Todesurteil gegen Öcalan auch gleichzeitig das politische Aus für die PKK bedeuten? Wie stellt sich die politische Situation innerhalb der kurdischen Arbeiterpartei seit der Inhaftierung ihres Chefs dar?

Die Situation ist für die Kurden und die PKK derzeit äußerst schwierig. Sie sind deprimiert und zum Teil desorientiert. Sie wissen nicht, was sie machen sollen. Insbesondere deshalb, weil sie feststellen müssen, daß auch die europäischen Staaten in dieser Sache überhaupt nichts unternehmen. Sonst laufen diese immer mit Menschenrechtsschaum vor dem Mund herum, wie das Beispiel Kosovo zeigt, aber im Fall Öcalan sagen sie nichts.

Hieran sieht man, wie mit zweierlei Maß gemessen wird. Das ist der eine Punkt. Zum anderen gibt sich die Türkei immer noch der Illusion hin, daß sie die PKK endgültig besiegt hat, wenn sie den Führer der PKK exekutiert. Ich bekomme täglich Nachrichten über neue Kämpfe in Kurdistan. Zwölf bis 15 Millionen Menschen lassen sich durch die Hinrichtung eines Führers nicht vollkommen beseitigen. Daß die PKK strategisch gezügelt sei, wie es so oft behauptet wurde, halte ich für völligen Unsinn. Sie ist zu einem Guerillakrieg immer noch fähig. Zwar wird sie nie einen militärischen Sieg erreichen, aber sie wird in jedem Fall so weitermachen können, daß der gesamte Südosten des Landes einer permanenten Kriegssituation ausgesetzt sein wird.

Wie erklären Sie sich Öcalans Waffenstillstandsangebot und seine plötzliche Absichtserklärung, mit einer Regierung zusammenzuarbeiten, die ihn eigentlich lieber hängen sehen will?

Sein Waffenstillstandsangebot ist ja nicht neu. Öcalan hat seit 1993 insgesamt drei Waffenstillstände verkündet, die zwar auch auf die ungleiche militärische Situation zurückzuführen waren. Diese Offerten wurden jedoch immer ausschließlich als militärische Schwäche interpretiert, mit der Folge, daß die Militärs triumphierten: "So, nun sind sie fertig. Jetzt müssen wir nur noch einmal kräftig draufhauen, dann haben wir sie ganz im Sack!"

Zuletzt hat Öcalan im vergangenen Herbst das Angebot erneuert. Ich habe mit ihm in Syrien und Rom darüber gesprochen. Er hat allerdings nicht um seine Amnestie gebeten, damit er die PKK in eine politische Partei umwandelt; sondern er hat gesagt, die Türkei muß uns die politischen Bedingungen ermöglichen, damit wir die Chance zu einer politischen Lösung haben. Dazu gehört eine Generalamnestie für alle inhaftierten PKK-Kämpfer. Auf dieser Basis hat sich Öcalan dazu bereit erklärt, die PKK innerhalb von drei Monaten in eine ausschließlich politische Organisation umzuwandeln.

Wird das Waffenstillstandsangebot auch von den übrigen PKK-Kadern begrüßt?

Ja. Die PKK-Führung, die momentan aus einem siebenköpfigen Gremium besteht, hat sich voll hinter Öcalans Position gestellt. Und das ist auch nicht überraschend. Denn in dem Moment, als Öcalan so nolens volens nach Rom kam, war für ihn klar, daß ein gemeinsamer politischer Weg gefunden werden mußte. Es war der Versuch, die europäischen Regierungen für eine politische Lösung stärker unter Druck zu setzen, damit diese wiederum Druck auf die Türkei ausüben. Die Europäer haben das versäumt, und somit ist dieser Versuch gescheitert. Sein Hauptanliegen, nach Europa zu reisen, war, aus der Sackgasse des Krieges endlich herauszukommen.