Abschiebung auf Rezept

Um reiseunfähige Flüchtlinge abzuschieben, fordert die Hamburger Ausländerbehörde von ÄrztInnen den Verstoß gegen ethische Standesregeln

Kein Blick nach links, keiner nach rechts. Zügig eilt die Amtsärztin vom Abflugterminal auf den Ausgang des Flughafengebäudes zu. Eine "menschliche Tragödie" sei das, preßt sie nur kurz hervor, und daß die Entscheidung nicht sie, sondern die Ausländerbehörde getroffen habe. Doch soeben hat die Ärztin der Abschiebung der kranken Kurdin Nikar S. samt ihrer drei Kinder zugestimmt. Den Flug, so das Votum der Medizinerin unmittelbar vor Abflug nach Istanbul, "wird sie überleben".

Achtmal in den vergangenen vier Wochen hat die Hamburger Ausländerbehörde Menschen abgeschoben, die zuvor wegen schwerer Krankheit geduldet werden mußten. Der 15jährige Kurde Murat E. etwa galt auch nach Auffassung der Ausländerbehörde als stark suizidgefährdet - wie diese in der Antwort auf eine kleine Senatsanfrage bestätigt: "Das Gesundheitsamt stellte fest, daß bei den Betroffenen insbesondere in Belastungssituationen eine erhebliche Selbst- und Fremdgefährdung mit suizidalen Tendenzen bestehe und eine Reisefähigkeit ohne Suizidgefährdung nicht gegeben sei". Die Kurdin Nikar S. war seit vorigem Sommer geduldet worden, weil sie an schweren Depressionen litt und sich in therapeutischer Behandlung befand.

In zwei Schritten geht die Ausländerbehörde bei den Abschiebungen vor. Zunächst schickt sie einen Amtsarzt auf den Flughafen, der die PatientInnen unmittelbar vor Abflug für reisefähig erklärt - und das entgegenstehende ärztliche Attest damit einkassiert. Dann schickt sie einen Arzt als Flugbegleiter mit auf die Reise. "Rein vorsorglich", so Ausländerbehördensprecher Norbert Smekal, "damit uns niemand den Vorwurf machen kann, wir würden den Gesundheitszustand unberücksichtigt lassen."

Die neue Praxis geht zurück auf ein internes Papier der übergeordneten Innenbehörde, das Mitte Mai bekannt geworden war. Darin beklagten die Verfasser, daß viele ausreisepflichtige Ausländer nicht aus Hamburg abgeschoben werden könnten. Zum einen, weil dadurch Familien auseinandergerissen werden müßten. Zum anderen, weil viele ihre Ausreise mit einem ärztlichen Attest zu verhindern wüßten, das sie für nicht reisefähig erklärt. Die Innenbehörde hege den "substantiierten Verdacht", daß es sich dabei um "Gefälligkeitsbescheinigungen" handelt. Die anzuzweifeln, erklärte sie unverhohlen zur Strategie - kranke AusländerInnen dennoch abzuschieben, zum Ziel: Wer über ein entgegenstehendes Attest verfügt, soll nunmehr schlicht in ärztlicher Begleitung außer Landes gebracht werden.

Zunächst bat die Behörde den Präsidenten der Hamburger Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, zum Diktat. Er solle die MedizinerInnen vor der Ausstellung von "Gefälligkeitsgutachten" warnen, wurde ihm mit auf den Weg gegeben. Was Montgomery auch prompt tat. Im Hamburger Ärzteblatt leitete er die Bedenken der Ausländerbehörde weiter und klärte über das Verfassen eines standesgerechten ärztlichen Attestes auf. Parallel gab die Ausländerbehörde beim Arbeitsamt eine Stellenanzeige auf: "Praktischer Arzt" gesucht "für die Rückführung ausreisepflichtiger Ausländer bis zum Zielflughafen des jeweiligen Heimatlandes, medizinische Grundversorgung, Medikamenteneinnahme sicherstellen, psychische Unterstützung, kurzfristig verfügbar". Neun ÄrztInnen stehen der Ausländerbehörde seither auf Honorarbasis zur Verfügung, bestätigt Smekal. Zusätzlich sollen zwei auf einer festen Stelle ein Büro in der Ausländerbehörde beziehen, von wo aus sie die Arbeit der medizinischen Flugbegleiter koordinieren sollen.

Während die Amtsärztin im Fall Nikar S. die Verantwortung für das Schicksal der Kurdin von sich weist, fürchten die Berufsverbände der MedizinerInnen, von der Ausländerbehörde in einer Weise funktionalisiert zu werden, die ihrer standesrechtlichen Aufgabe widerspricht. Anfang Juni verabschiedete der Deutsche Ärztetag in Cottbus eine Erklärung, in der es ausdrücklich heißt: "Abschiebehilfe durch Ärzte in Form von Flugbegleitung, zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka oder Ausstellung einer Reisefähigkeitsbescheinigung unter Mißachtung fachärztlich festgestellter Abschiebehindernisse (...) sind mit den in der Ärztlichen Berufsordnung verankerten ethischen Grundsätzen nicht vereinbar".

Die Resolution wurde der Ausländerbehörde vor der Abschiebung von Nikar S. noch zugestellt. Beeindruckt hat sie dort niemanden. Zum einen, so Smekal, habe die Zeit gefehlt, sie dem Arzt noch zur Kenntnis zu bringen, der als Flugbegleiter angeheuert worden war. Zum anderen seien Abschiebungen schlicht rechtsstaatlich und die Frage, wer den Flüchtling begleitet, "rein organisatorischer Natur".

Mittlerweile hat sich auch der Vorstand der Hamburger Ärztekammer mit dem Problem befaßt. Auf der letzten Sitzung am Montag vergangener Woche wurde verabredet, die aktuellen Fälle genau zu prüfen. "Wir wollen uns ein Bild davon machen, wie die Aufgabe der Ärzte genau beschrieben ist, welche Medikamente sie mitführen und inwieweit sie die Krankenakten kennen", so der Sprecher der Ärztekammer, Wolfram Scharenberg. Sollte das Gremium zu dem Ergebnis kommen, daß die Abschiebeärzte gegen die "Berufsordnung der Hamburger Ärzte und Ärztinnen" verstoßen haben, können sie standesrechtlich gerügt oder gar vors Berufsgericht gestellt werden.

Die Abgeordnete der Grünen-Abspaltung "Regenbogen" in der Hamburger Bürgerschaft, Susanne Uhl, ist überzeugt, daß die Ausländerbehörde ihre Fürsorgepflicht als Arbeitgeberin verletzt, wenn sie ÄrztInnen mit einer Aufgabe betreut, die gegen deren Berufsordnung verstößt. Der Koalitionspartner der regierenden SPD, die Grün-Alternative Liste (GAL), hat Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD) inzwischen zu einem Gespräch über seine Abschiebepraxis aufgefordert, und selbst dessen SPD-Fraktion hat ihm zu verstehen gegeben, daß sie seine Linie nicht stützt.

In der Vergangenheit indes hat er sich wenig um politische Vorgaben geschert. Etwa im Fall des 14jährigen Kurden Murat E. Der war ins Flugzeug gesetzt worden, kurz nachdem im Mai ein Sudanese bei einer von Beamten des Bundesgrenzschutzes (BGS) begleiteten Abschiebung zu Tode gekommen war. Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hatte darauf einen Abschiebestopp für die Fälle verhängt, in denen mit einer Gegenwehr der Flüchtlinge zu rechnen ist. Das war bei Murat E. der Fall, wie die Ausländerbehörde bestätigte. Da sie ihn deshalb nicht mit BGS-BeamtInnen außer Landes bringen durfte, schob sie den Jugendlichen einfach mit landeseigenen Polizisten ab.