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Exil: Flucht und Vertreibung aus dem Bayerischen Viertel. Eine Ausstellungsinstallation in Schöneberg

"Nein, Amerika ist nicht meine 'Heimat' geworden. Ich glaube nicht, dass ich noch einmal eine 'Heimat' haben moechte, die ich liebe und mich dann hinauswirft." Irene Hofstein, geb. Schlesinger, die dies 1998 an das Kunstamt Schöneberg schrieb, wurde 1921 in Berlin geboren und lebte ab 1924 im Bayerischen Viertel.

Nachdem sie 1934 und 1936 zweimal von ihrer Familie ins Ausland geschickt worden war, stellte sie 1937 einen Antrag auf Ausreise in die USA. Am 1. August 1939 kam sie gemeinsam mit ihrer Mutter Erna Schlesinger mit dem Schiff in New York an. "Die meisten meiner Cousins, Tanten, Onkel und Freunde konnten nicht weg und wurden in KZs verschleppt und dort ermordet. Das schlimmste war, daß meine Großmutter (Jenny Pelz) nicht mit uns kommen konnte. Am Ende wurde sie am 17. 3. 1943 nach Theresienstadt verschleppt und später nach Auschwitz, wo sie ermordet wurde."

Ihre Töchter, so Irene Hofstein in einem Gespräch, behaupten, sie habe eine "Holocaust mentality", sie sei fürchterlich "overprotecting". "Ja, amerikanische Eltern sind da vielleicht anders." Aber auch das gilt für sie: "Man muß abschließen können - für die eigene sanity ist das wichtig." Ein Mittel ist die nun schon zwölfjährige aktive Mitarbeit im Deutsch-Jüdischen-Dialog. Deshalb habe sie sich auch dazu bereit erklärt, auf Einladung des Berliner Canisius-Kolleg-Gymnasiums mit 90 Schülerinnen und Schülern ein Gespräch zu führen.

Irene Hofsteins Geschichte ist eine von weiteren 72 ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner des Bayerischen Viertels, zu denen biographische Dokumentationen noch bis zum 18. Juli in einer Open-Air-Ausstellung auf dem Bayerischen Platz nachzulesen sind. Dazu kann man sich an einen fast 60 Meter langen Tisch setzen, der die Rasenfläche in zwei Hälften teilt. Auf der einen Seite liegen in biographischen Erinnerungsbüchern Dokumente von und über Exilanten und Emigranten aus, auf der anderen liegen in Schubkästen nicht nur Erinnerungszitate aus Interviews mit heutigen Bewohnern des Bayerischen Viertels, sondern auch leere Papierbögen, auf denen die Erinnerungen fortgeschrieben werden können. Ganz gezielt werden nun auch die Jüngeren danach befragt, was ihnen ihre Eltern und Großeltern erzählt haben.

Die Ausstellungsinstallation "Exil - Flucht und Vertreibung aus dem Bayerischen Viertel" ist das Ergebnis der vieljährigen Arbeit der Leiterin des Kunstamts Schöneberg, Katharina Kaiser, an der Vergangenheit und Gegenwart jüdischer Geschichte in Schöneberg. Wie schon in "Orte des Erinnerns - Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel" (1995) liegt der Ausstellung auch dieses Mal das Konzept zugrunde, über individuelle Biographien vom Nationalsozialismus zu berichten.

Hierfür einen Tisch als "Ausstellungsort" zu wählen, war nicht nur eine Frage des Ausstellungsdesigns. Er steht materiell für das, was diese Form von Arbeit an Geschichte ausmacht. Einerseits trennt der Tisch die Opfer von den Tätern, bietet aber zugleich die Möglichkeit zum Gespräch, wenn man sich gegenübersitzend wiederfindet. Andererseits läßt er jeden denkbaren Raum zur Erinnerung zu. Und es wird geredet. Nach Marion Neumann, einer Mitarbeiterin des Kunstamts, kommen je nach Wetter bis zu 100 Besucherinnen und Besucher, stürzen sich Schulklassen geradezu auf Zeitzeugen, um sie nach deren Alltagserlebnissen zu befragen. "Seit dem Denkmal (von Renata Stih und Frieder Schnock, eingeweiht 1993; G. W.) gibt es Kommunikation, weil es um den Alltag geht."

Alltag. Der sah auf der einen Seite so aus: "Und der Herr Moser hinten im Haus, der im Gartenhaus, der war auch auf einmal weg. Die Wohnungen waren leer, und dann zogen nach gewisser Zeit andere Leute rein."

Aber auch: "Dieser Angelkort, von dem ich sprach, der tauchte nach dem Krieg denn auf einmal auf, also, das war denn wie ein Mensch aus einer anderen Welt, der kam mit einem großen Chevrolet oder so einer Riesenkiste. Und der war denn bei einer Erdölfirma in der Schweiz gelandet. Also, der hatte dann doch zumindest ein gutes Ende, die ganze Familie hatte überlebt, und er hatte offensichtlich einen guten Job gekriegt."

Auf der anderen Seite steht nicht nur Irene Hofstein, sondern auch jene Frau, die von ihrem Mann an den Tisch gerufen wird und vor einem der Bücher ausruft: "Das ist meine Cousine." Und die auf Nachfrage weiter erzählt, sie sei eines der 10 000 Kinder gewesen, die 1938, auf Beschluß des britischen Kabinetts und organisiert von verschiedenen jüdischen und christlichen Organisationen, in Großbritannien aufgenommen worden waren.

Von ihr erfährt man, wie aus einem konservativ-katholisch sozialisierten Kind eine Jüdin gemacht wurde, das sich 1934 in der jüdischen Privatschule von Luise Zickel wiederfand und aus Garnrollen einen Chanukka-Leuchter baute. "Mein Vater war Rechtsanwalt und wir hatten kein Geld. Da blieb für uns nur Shanghai. Aber das hat sich mein Vater nicht getraut - das nehm' ich ihm bis heute übel. Was er denn dort tun solle, hat er gefragt. Nun. Und was hat er dann getan? Er hat dann Steine klopfen müssen."

Was Shanghai für die vermutlich über 16 000 deutschsprachigen Flüchtlinge tatsächlich bedeutete, erfahren die Besucherinnen und Besucher auf den sieben Tafeln zu Exil- und Emigrationsländern, die der Verein Aktives Museum rund um das Rasen-Oval aufgestellt hat. Beim Lesen relativiert sich die Erleichterung über das "gute Ende" des Herrn Angelkort, wenn 1938 aus dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement erklärt wurde: "Die Juden gelten im Verein mit anderen Ausländern als Überfremdungsfaktor. Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit die Verjudung der Schweiz zu verhindern." Hinter dem Euphemismus "vorsichtige Arbeit" verbergen sich Ausweisung, Internierung und ab 1942 vollständige Schließung der Grenzen.

Daß die geglückte Flucht zum komfortablen Zufluchtsort für Entschuldungsanstrengungen wird, wird unter anderem dadurch verhindert, daß gleich auf der ersten Tafel aus einem Brief von Gerry P. Waldston (Gerd Paul Waldstein) zitiert wird: "Was aus mir geworden ist? Alle Flüchtlinge haben einen Schmiß - irgendwo. Bei manchen ist es zu sehen, bei vielen aber verborgen oder kommt plötzlich ans Licht. Sei es ein Angstgefühl, ein immerwiederkehrender Traum, ein Minderwertigkeitskomplex, eine Erscheinung der Vergangenheit - was auch immer -, es geht nicht aus den Kleidern." (6. Februar 1998)

Das Gedenkbuch zur Erinnerung an Berliner Juden, die aus Schöneberg und Friedenau - in ihrer Mehrzahl aus dem Bayrischen Viertel - deportiert wurden, verzeichnet 6 069 Namen. Darüber hinaus ist bekannt, daß allein 10 000 Menschen allein aus Berlin-Schöneberg ab November 1938 aus ihrer "Heimat" flüchten mußten.

"Exil: Flucht und Vertreibung aus dem Bayerischen Viertel", Open-Air-Ausstellung des Kunstamts Schöneberg in Kooperation mit dem Verein Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin. Bayerischer Platz, 30. Mai bis 18. Juli 1999, tgl. 11-17 Uhr. Zur Ausstellung wurde der Band "Orte des Erinnerns. Jüdisches Alltagsleben im Bayerischen Viertel" von der Edition Hentrich in Berlin neu aufgelegt.