Bildersturm und Bilderflut

Berlin und Weimar: Ausstellungen als Rekonstruktion nationaler Identität.

Derzeit gibt es zwei Ausstellungen, die Anlaß geben, darüber nachzudenken, wie recht Heiner Müller mit seiner (nicht zuerst von ihm getroffenen) Feststellung hatte, die Eroberer würden zuallererst die Kultur der Eroberten liquidieren. Gemeint sind "Einigkeit und Recht und Freiheit" im Berliner Martin-Gropius-Bau (Jungle World, Nr. 21 / 99) und "Aufstieg und Fall der Moderne" in Weimar. Der Ulmer Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften e.V. veranstaltete dazu am 19. Juni an der Humboldt-Universität zu Berlin einen Workshop mit dem Thema "Kunst-Geschichte, Ausstellungs-Politik".

Da natürlich schon vor dem Treffen über beide Ausstellungen viel geredet und geschrieben worden war, traf man sich nicht unvoreingenommen. Die "Wege der Deutschen" (so der Untertitel zur Ausstellung im Martin-Gropius-Bau) ziehen sich zwar durch 5 000 Quadratmeter Ausstellungsfläche, an rund 5 500 Exponaten vorbei, daß aber die DDR-Kultur und der DDR-Alltag ins Kuriosum der verkehrten Welt schiefer Ebenen verbannt wird und sich die Politik der DDR in abgrundtief häßlichen Gastgeschenken und sportlichem Kraftaustausch spiegelt, war von vornherein Reibungspunkt des Treffens.

Ebenso mußte man, mit Blick auf die Weimarer Ausstellung, zunächst durch die Rede vom "Müllsack" durch (Christina Bauer-Volke), hängen doch hier die rund 500 Gemälde, die unter dem Motto "Offiziell und Inoffiziell - Die Kunst der DDR" eine Retrospektive der DDR-Kunst darstellen (sollen), im Obergeschoß des ehemaligen Gauforums auf grauer Lkw-Plane oder stehen in Bauhaus-Rahmen auf dem Boden. Als um so wichtiger stellte sich genaues Hinsehen heraus, wollte man doch mehr, als den Revanchismusvorwurf, der beiden Ausstellungen gemacht wird, festklopfen.

Schon allein die Tatsache, daß man anhand beider Ausstellungen, der Berliner und der Weimarer, darüber streiten kann, wie in beiden die DDR repräsentiert wird (Christof Baier und Jan Altmann), zeigt, daß beidesmal Kulturelles und Politisches unaufhebbar zur Ausstellung gekommen ist, es beidesmal vorrangig um die visuelle Repräsentation des Politischen geht (Godehard Janzing und Robert Felfe für die Berliner Ausstellung).

Für einen anderen Zusammenhang, aber ebenso zutreffend für den hier verhandelten, schrieb Silke Wenk mit Bezug auf Maurice Halbwachs: "Über derartige aktuelle Beispiele, in denen die Übergänge zwischen dem Kulturellen - den alltäglichen Praxen und populärer Medienkultur - einerseits und der Politik und ihrer Repräsentation andererseits fließend sind, kann deutlich werden, daß das Politische immer schon von dem bestimmt ist, womit es nichts zu tun haben soll. Selbstverständlich erscheinende Praktiken, Rituale und Bilder sind aus der Politik nicht wegzudenken. Das kollektive Gedächtnis, auf das politisches Handeln und Repräsentation sich immer beziehen (muß), bildet den 'Rahmen', in dem bestimmte Erinnerungen lokalisiert und in Anordnung gebracht sind, die für das jeweilige Kollektiv 'Sinn' macht; es läßt sich auch als Ort der Aufbewahrung von Bildern verstehen, die miteinander in Beziehung stehen und mit dem Denken und Handeln des jeweiligen Kollektivs."

Was hier mit "Bilder" gemeint ist, ist nicht nur übertragbar auf den Ringelpullover von Rudi Dutschke oder Joseph Fischers Turnschuhe, es meint nicht nur die apsidial angeordneten Fotoportraits der ersten Nachkriegs-Ministerpräsidenten der westlichen Bundesländer (nebst der einzigen Frau - Louise Schroeder aus Berlin) einerseits und die auf Linie gehängten (gebrachten) ersten Ministerpräsidenten der östlichen Länder andererseits.

Die Übergänge zwischen dem Kulturellen und dem Politischen sind selbstverständlich auch da vorhanden und ebenso fließend, wo es ganz konkret um Kunst geht, egal ob offiziell oder inoffiziell, egal ob dezidiert für den Palast der Republik gefertigt oder aber für den Galerienverkauf. Alle sind sie Erinnerungsstücke; der Streit aber entsteht dort, wo die Frage danach gestellt wird, welches der Sinn ist, den sie machen und der mit ihnen gemacht wird, und welches Kollektiv gemeint ist bei der Rede vom kollektiven Gedächtnis. Daß hier höchste Aufmerksamkeit geboten ist, ist nicht erst im fünfzigsten Jahr des Grundgesetzes klar.

Ob es nun um die Neue Wache ging oder ums Holocaust-Denkmal, es gibt reichlich Beweise, wie nach 1989 auf dem Feld des Visuellen eine Re-Konstruktion von Nation versucht wurde und wird. "Nation im Sinne einer imaginierten Gemeinschaft, die 'nur' in der Vorstellung als solche existiert und in entsprechenden Erzählungen und performativen Praxen immer wieder erneut konstruiert wird." (Wenk)

Für die Tagung erwies es sich als äußerst produktiv, die Antwort auf die Frage, wie die Berliner Republik erfunden wird, 50 Jahre nach dem Grundgesetz für die BRD und zehn Jahre nach der Vereinigung von BRD und DDR, mit einem Vortrag (auch) über das der Berliner Ausstellung zugrundeliegende geschichtsphilosophische Modell beginnen zu lassen. Christian Holtorf benutzte den Begriff von der deutschen "Urgesellschaft" als Metapher "für den Ausgangspunkt innerhalb eines fortschritts- und heilsgeschichtlich interpretierten Geschichtsbildes."

Es wurde schon andernorts in Feuilletons darauf verwiesen, daß die "Wege der Deutschen" in dieser Ausstellung zwangsläufig Richtung Mauerfall führen mußten, aber bislang kam wohl kaum eine Besprechung dem Ausstellungskonzept so nahe wie Holtorf, als dieser feststellte, daß 50 Jahre Geschichte nur begriffen werden sollen als Vorgeschichte, mit dem Ziel der vereinten, demokratischen und marktwirtschaftlichen Bundesrepublik. "Diese Darstellung knüpft unmittelbar an zwei geschichtsphilosophische Traditionen an: an die biblische Historie Israels und ihren heilsgeschichtlichen Zusammenhang und an die traditionelle marxistische Dialektik notwendiger historischer Stufen, die sich unter anderem an Geldwirtschaft, Besitzverhältnissen und Staatsentwicklung messen lassen." Gegen diese Konstruktion des Geschichtsverlaufs wurde der Mut zu einer Alternative gar nicht erst geprobt. Ähnliches gilt auch für Weimar.

Bei dem ganzen Skandal um die Hängung der DDR-Kunst, vor allem um den Teil des sogenannten Panoramas, jener Rotunde, in der das Gros der Gemälde versammelt ist, eingeklammert von einer "Kurve", in der elf der 16 Gemälde zur Ausstattung des Palastes der Republik gezeigt werden und dem "Keil", in dem "inoffizielle Kunstkonzepte und alternative Seinsweisen im ostdeutschen Staatssozialismus" dargeboten werden, wird vergessen (gemacht), daß "Aufstieg und Fall der Moderne" drei Teile hat. Im Schloßmuseum wurden mit viel Aufwand die frühen modernen Ausstellungen und vor allem die Privatsammlungen von Henry Graf Kessler und Henry van de Velde rekonstruiert - hier wären die Stichworte Geldwirtschaft und Besitzverhältnisse angemessen.

Im zweiten Teil, ebenfalls im Gauforum, aber strikt räumlich von der DDR-Kunst-Ausstellung getrennt, werden 200 Gemälde aus der Sammlung gezeigt, die Adolf Hitler zwischen 1937 und 1944 erworben hatte oder erwerben ließ. Natürlich geht es hier um Staatsentwicklung. Aber weil es große Mühe macht, dem nachzuspüren, wie das Politische von dem bestimmt ist, womit es nichts zu tun haben soll, bleibt statt Analyse nur die Verwunderung darüber, daß "Bilder propagandistischen Inhalts", "heroische Kriegsszenen", "Aufmärsche und öffentliche Feiern" in der Sammlung Hitlers nicht vorkommen. "Der tagespolitische Bezug widersprach nachweislich seinem Kunstverständnis." Dieser theoretische Unsinn setzt sich, dies wies Christian Fuhrmeister in seinem Beitrag nach, in ungenauen oder fehlerhaften Betitelungen der Arbeiten und falsch geschriebenen Künstlernamen fort.

Man muß alle drei Stationen dieser Ausstellung sehen, um zu begreifen, daß hier Ausstellungsmacher am Werke waren, die mit Kunstprodukten ebenso verfahren wie mit kapitalistischer Massenproduktion von Konsumgütern. Es gibt keinen Unterschied zwischen der ökonomischen Leistungsschau im Martin-Gropius-Bau und der Nicht-Kleckern-sondern-Klotzen-Haltung in Weimar; beide Ausstellungen protzen durch Masse.

Das wirkliche Drama aber ist, daß dadurch Erkenntnisinteressen zum Erlahmen gebracht werden sollen. Angesichts der gnadenlosen Unkenntnis nicht nur der NS-, sondern auch der DDR-Kunst ist es nämlich durchaus ein Gewinn, endlich mal vieles und viel Verschiedenes zu sehen zu bekommen, und zwar auf eine Weise, die nicht aussortiert, bewertet und nach einem kunsthistorisch vorgefertigten Kunstbegriff sondiert.

Von einer Liquidierung von Kultur kann dann nicht mehr die Rede sein. Für dieses Sehen kann man die Kommentare der Ausstellungsmacher ungelesen beiseite legen, um aber zu verstehen, wie Erinnerungen in Anordnung gebracht werden, wird man sich zukünftig auch mit diesen auseinanderzusetzen haben.