Kein Bedarf an Märtyrern

Der Prozeß gegen PKK-Chef Öcalan wird auch nach einem Todesurteil weitergehen

Der Soldat am Tor der Gendarmerie von Mudanya durchforstet seine Listen immer und immer wieder. "Tut mir leid, Ihr Name ist hier nicht zu finden, Sie nehmen erst am 2. Juli an der Verhandlung teil." Es hat keinen Zweck, ihm zu erklären, daß es an diesem Tag keine Verhandlung mehr geben wird. Hier ist Soldatenlogik am Werk. Die Listen der zwanzig Journalisten - zwölf türkische und acht internationale Medienvertreter, die einen Verhandlungstag im Prozeß gegen den Staatsfeind Nummer eins, Abdullah Öcalan, auf der Insel Imrali beobachten dürfen - soll nämlich der Generalstab selbst erstellen, erzählt uns der Soldat ernst und würdevoll.

Auch im Pressezentrum von Mudanya blättert der zuständige Referent aus dem Ministerium des türkischen Präsidenten verwirrt in seinen Listen. Wieso Generalstab? Das Staatssicherheitsgericht entscheidet über die Reihenfolge der Medienvertreter, sagt er empört. Nach viel Hin und Her wird das Problem gelöst, ich werde einen Tag später als zunächst angekündigt fahren können. In diesem Land gewinnt, wer ausdauernd und lautstark genug lamentiert.

Der Soldat am Tor der Gendarmerie von Mudanya strahlt, als ich das zweite Mal aufkreuze: "Ja, heute sind Sie auf meiner Liste." Einen Tag vor dem großen Ereignis muß man seine Fingerabdrücke hier hinterlassen - wer weiß, wofür das noch gut sein wird. Dann wird eine Filmaufnahme gemacht und als Höhepunkt die Matrix der Augennetzhaut abgelesen - alles aus Sicherheitsgründen natürlich.

Als eine Gruppe von etwa siebzig Personen marschieren wir im Gänsemarsch auf das Schnellboot zur Insel Mudanya, alles hierarchisch geregelt und organisiert. Erst kommen vierzig Familienangehörige von im Kampf gegen die PKK gefallenen Soldaten. Jeden Tag sind es neue, sie treten im Prozeß als Nebenkläger auf, und ihre traurigen Einzelschicksale werden von den türkischen Medien ausgeschlachtet. Das zweijährige Kind eines von der PKK erschossenen Lehrers machte kürzlich Schlagzeilen. Davor war es der Veteran, der vor dem Glaskäfig Öcalans mit seinem abgeschnallten Holzbein gestikulierte - groteske Szenen gab es während dieses Prozesses genug.

Die See ist an diesem Morgen noch recht stürmisch, am Tag zuvor haben sich alle Fahrgäste samt der anwesenden Ärzte übergeben müssen - wie gut, daß ich erst jetzt fahren durfte. Eineinhalb Stunden dauert die Überfahrt mit dem Schnellboot, eine halbe Stunde länger als üblich.

Die Insel ist groß, früher beherbergte sie rund zweihundert Sträflinge. Nun sitzt Abdullah Öcalan hier allein, und unter den Journalisten kursiert das Gerücht, es gebe auch schon zehn Zellen für die wichtigsten PKK-Funktionäre, deren Verhaftung Staatspräsident Süleyman Demirel vollmundig in dem staatlichen Propagandakanal TRT versprochen hat. TRT ist auch der einzige Sender, der im Gerichtssaal filmen darf, während die "halbstaatliche" Nachrichtenagentur Anadolu als einzige Agentur direkt von der Insel berichtet.

Uns hat man Mobiltelefon und Kugelschreiber weggenommen, dafür bekommen wir auf der Insel einen Schreibblock und einen Kuli von der Gendarmerie. Dieses Vorgehen hat den Effekt, daß als erste und damit entscheidende Nachricht der Kommentar von Anadolu mit den entsprechenden Bildern von TRT in die Welt versendet wird. Erst am Abend haben die anderen zugelassenen Journalisten die Möglichkeit, ihre Einschätzung zu übermitteln.

Am ersten Prozeßtag erwies sich diese Nachrichten-Selektion als äußerst wirkungsvoll. Die Welt staunte über einen Öcalan, der sich bei den Angehörigen der gefallenen Soldaten entschuldigte und den türkischen Staat anflehte, ihn nicht aufzuhängen. Unterschlagen wurde, daß Öcalan - größenwahnsinnig, wie er nun einmal ist - gemeint hat, im Gerichtssaal mit dem Vorsitzenden Richter über einen Friedensschluß zwischen dem türkischen Staat und der PKK verhandeln zu können.

Ab und zu fährt er seine Anwälte an, sie hätten den Mund zu halten. Sein Plädoyer hat er am Vortag gehalten: Er glaubt, es stünde in seiner Macht, die Guerilla von den Bergen zu holen, wenn man ihn nur leben lasse und wenn den Kurden Bürgerrechte in einer demokratischen Türkei zugebilligt würden: Schöne neue Welt, wo bist du?

Die Anwälte verlesen den Rest der dreihundertseitigen Verteidigungsschrift, am vergangenen Verhandlungstag haben sie ganze dreißig Seiten geschafft, Öcalan setzt sich zum Schlafen zurecht. Obwohl er sonst gespannt wirkt, knickt sein Oberkörper ein, als die Anwältin Mükrime Tepe zu lesen beginnt. Die Beine werden vorgestreckt, das Kinn sinkt nach vorn, Öcalan beginnt zu dösen. Zwölf der hundert Anwälte des Verteidigerstabs sind anwesend, und man fragt sich die ganze Zeit, wie der Führer der PKK sich von einer solchen Schulklasse verteidigen lassen kann.

Die Hälfte der Anwälte ist unter Dreißig. Mükrime Tepe, Anfang Zwanzig, ist die Schwester eines von der Polizei zu Tode gefolterten kurdischen Journalisten. Ihr Vater, ein Mann mit Grundschulausbildung, ist Kandidat der prokurdischen Hadep bei den Parlamentswahlen. Mükrime hat nach dem Studium in einer Anwaltskanzlei ein Praktikum absolviert, Berufserfahrung hat sie keine. Mit gleichbleibender Tonlage beginnt sie von dem Papier abzulesen, ein leiernder Sermon, der den Vorsitzenden Richter ungläubig aufblicken läßt. Auch der nächste Vorleser kann es nicht besser, fünf Stunden lauscht das Auditorium einer überraschend schlecht verfaßten Verteidigungsschrift.

Erst wird die Institution des Staatssicherheitsgerichtes, ein Relikt des Militärputsches von 1980, kritisiert. Die türkische Regierung hat im letzten Moment eine Gesetzesreform verabschiedet, so daß der Militärrichter des dreiköpfigen Komitees heute durch einen zivilen Richter ersetzt wird - als ob dessen Anwesenheit das Gericht unabhängiger und die Gesetze demokratischer machen würde.

Danach berichten die Anwälte von Fällen, in denen die Türkei wegen Menschenrechtsverletzungen gegen Kurden vom Europäischen Gerichtshof verurteilt wurde. Im Anschluß folgt ein zweistündiger Vortrag über die Geschichte der Kurden. Zwischenzeitlich wird die Mutter eines gefallenen Soldaten des Saales verwiesen, weil sie hysterisch zu schreien begonnen hat, daß diese Vaterlandsverräter keinen Meter türkischen Bodens verdienen.

Die Mittagspause erlöst uns von dem öden Geseiere; selbst in Proseminaren wird besser vorgetragen, sind sich alle einig. Da hat der Kollege eines Hamburger Nachrichtenmagazins die zündende Idee: Die Anwälte orientierten sich an Walter Benjamins "Engel der Geschichte" und wollten historisch ein Zeichen setzen, wirft er ein. Wir schleppen uns zurück in den Gerichtssaal, der Engel wird uns noch eine Stunde beschäftigen.

Ein Tumult bricht aus, als einer der Anwälte der Anklage Öcalan als "Sohn eines Esels" bezeichnet - im Türkischen eine schwere Beleidigung. Der Vorsitzende Richter verwarnt den pöbelnden Anwalt Sevket Cam Özbay, er sei hier nicht im Kaffeehaus. Özbay ist ein bekannter nationalistischer Anwalt. Mehrfach präsentiert er sich während des Prozesses als Arm der Entrechteten und verspricht, daß man Öcalan und seine Anwälte schon noch zum Schweigen bringen werde.

Erst im letzten Teil wird es spannend: Die Anwälte Öcalans weisen darauf hin, daß ihr Mandant sich bereits 1993 von der Idee eines eigenen kurdischen Staates distanziert hat. Dieses Argument wendet sich gegen die Anwendung des Paragraphen 125, der die Todesstrafe wegen Separatismus vorsieht. Und sie zitieren türkische Politiker, die in der Vergangenheit erklärt haben, daß die Todesstrafe in der Türkei wegen ihres Nichtvollzuges seit 1984 in der Rechtspraxis nicht mehr existiere. Die Verteidigung beendet ihr Plädoyer. Öcalan erwacht für zwei Minuten und erklärt, er habe nichts hinzuzufügen.

Auf der Rückfahrt ist die See ruhig. Allen ist klar, daß dies nicht das Ende des Prozesses sein wird. Nach der Verhängung der Todesstrafe wird die Verteidigung sofort in Revision gehen; einen entsprechenden Antrag hat sie bereits beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg eingereicht. Selbst Staatspräsident Süleyman Demirel hat nach der Verhandlung auf TRT ausdrücklich auf den Revisionsweg hingewiesen.

Eins ist sicher: Ankara hat begriffen, daß der Henker die eigentlichen Fragen nicht lösen wird. Ein in der Öffentlichkeit als Feigling lächerlich gemachter Apo ist hinter Gittern weit weniger gefährlich als ein hingerichteter Apo, der der Bewegung als Märtyrer dient.