Da hilft nur noch Beten

In Polen wächst die Skepsis über den Beitritt zur Europäischen Union

Nach dem pontifikal-patriotischen Rausch kehrt in Polen der banale Alltag zurück. Die Veröffentlichung der höchst irdischen Zahlen mit den neuesten Wachstumsprognosen, die die Europäische Kommission ausgerechnet inmitten der euphorischen Stimmung während des Papstbesuches präsentierte, sorgt für Katerstimmung. Die Brüsseler Warnung, mit dem schwachen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts könne der Abstand zu den EU-Vollmitgliedern nicht verringert werden, wurde zwar nur auf den hinteren Zeitungsseiten abgehandelt, verfehlte aber ihre Wirkung dennoch nicht.

Schätzten die Kommissionsstatistiker noch vor kurzem das Wachstum für dieses Jahr auf 5,5 Prozent, so rechnen sie jetzt mit nur noch 3,7 Prozent (1998: sechs Prozent). Polen liegt damit im Trend der anderen zehn Beitrittskandidaten: Slowenien, die Slowakei, Ungarn und die drei baltischen Staaten werden noch schwächere Wachstumsraten zugetraut. Doch auch für Polen bedeuten die neuen Zahlen, sich im letzten Drittel der ersten Liga der Beitrittskandidaten wiederzufinden.

Nach Berechnungen der Kommission beträgt das mittlere Einkommen in Polen nur rund ein Drittel des EU-Durchschnitts. Die größten Schwierigkeiten der polnischen Wirtschaft liegen dabei nach Meinung der Kommission im Außenhandel. Mit einem Handelsdefizit von rund zehn Prozent ist Polen Schlußlicht der Region.

Der freundliche Hinweis der EU entbehrt nicht eines gewissen Zynismus, entsteht das polnische Defizit doch vor allem durch den Handel mit der EU. Diese schützt sich mit Protektionismus vor "Billigimporten aus dem Osten", subventioniert aber gleichzeitig ihre Produkte und verbilligt sie so bis zum Dumping. Doch im Anschlußprozeß ist Brüssel eben Anwalt, Kläger und Richter in einem. Die ungleichen Beitrittsgespräche kommen in den nächsten Monaten in ihre entscheidende Phase.

Für die EU ist Polen dabei der ökonomisch interessanteste und zugleich schwierigste Verhandlungspartner der Ost-Erweiterung. Die im Vergleich gute Position wissen auch die Warschauer Gesprächsführer zu nutzen. Die EU sprach schon von einem "Mangel an Klugheit" und "unrealistischen Visionen" - was man aus polnischer Perspektive als Lob für gute Verhandlungsführung lesen kann. Die seit Ende 1997 im Amt befindliche liberal-konservative Regierung kann als Druckmittel auf ihre EU-Skeptiker am rechten Rand verweisen, die sie, um des Koalitions- und sozialen Friedens willen, nicht verprellen dürfe.

Personifiziert wird dieser prononciert westliche Kurs durch ein ungleiches Duo, das sich dennoch als taktisch vorteilhaft erweist: dem Außenminister Bronislaw Geremek von der liberalen Unia Wolnosci (Freiheitsunion) sowie dem Vorsitzenden des Komitees für europäische Integration, Ryszard Czarnecki, einem nationalistischen Rechtsaußen der Akcja Wyborcza Solidarnosci (Wahlaktion Solidarnosc).

Die zwiespältige Haltung gegenüber dem Westen findet sich auch in der Gesellschaft wieder. Die generelle Zugehörigkeit zu "Europa" stellt kaum jemand in Frage. Kulturell, ideell, geschichtlich und auch geostrategisch begreift sich Polen als Teil der westlichen Welt. Nach Umfragen setzen nicht mal fünf Prozent auf eine russische Option. Doch die konkrete politisch-ökonomische Einbindung wird kühler betrachtet. In den letzten Jahren wuchs die EU-Skepsis kontinuierlich und vermutlich wird sie noch weiter zunehmen.

Dabei orientiert sich die Meinung über den EU-Beitritt weniger an parteipolitischen Präferenzen, sondern an sozialen Lagen. Nur die Bauernpartei Polskie Stronnictwo Ludowe (Polnische Volkspartei, PSL), die schwer in das Links-Rechts-Schema einzuordnen ist, schert hier aus dem Konsens aus: Ihre Sympathisanten sind kritischer als die Anhänger anderer Parteien gegen Europa eingestellt, vertreten jedoch keine Fundamentalopposition. Im Gegensatz zu den konservativen Volksparteien und Sojusz Lewicy Demokraticznej (Vereinigte Demokratische Linke) ist die PSL eine klassische Interessenpartei.

EU-Skeptiker und Enthusiasten korrespondieren fast direkt mit voraussichtlichen Gewinnern und Verlierern des Beitritts. Neben den Landwirten gelten Berg- und Stahlarbeiter, Ältere und schlecht Ausgebildete als "schwierig". Doch auch manche Ärzte, Wissenschaftler, Juristen und Kaufleute halten einen schnellen Beitritt für nicht wünschenswert, während sich die Auto- und Bekleidungsindustrie relativ gute Chancen ausrechnet. Trotz idealistischer Vorstellungen vom "goldenen Westen" vergessen die Polen offenbar nicht, in ihren Geldbeutel zu schauen.

Und dieser Blick wird sich für große Teile trüben. Zwar wurden in Brüssel Übergangsfristen für die Umstrukturierung des Agrarsektors ausgehandelt; dennoch wird sich die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft in den nächsten zehn Jahren von derzeit etwa 27 auf fünf Prozent verkleinern müssen, so der polnische Landwirtschaftsminister Jan Kulakowski. Der heute schon enorme Arbeitskräfteüberschuß in der Landwirtschaft wird im Fall der Modernisierung und Europäisierung weiter wachsen. Zu den rund sechs Millionen Armen, etwa ein Sechstel der Bevölkerung, werden noch einige hinzukommen.

Darüber hinaus wird die Neustrukturierung der polnischen Wirtschaft auf den sozialen Standard der Gesamtbevölkerung durchschlagen. Denn viele Menschen konnten bisher nur durch die verwandtschaftlichen Netze - die Beziehungen zum elterlichen oder einem befreundeten Bauernhof - den Absturz in krasse Armut verhindern. Die Kleinbauern leben heute zu großen Teilen aus Direktverkäufen am Staat vorbei innerhalb eines zweiten ökonomischen Zyklus, durch den die erweiterte Großfamilie, die Töchter, Schwiegersöhne und Enkel in der Stadt unterstützt werden. Das "Austrocknen" der informellen Ökonomie könnte unabsehbare soziale Konsequenzen zeitigen.

Doch eine gesamtgesellschaftliche Bewegung jenseits unmittelbarer Interessenpolitik ist nicht in Sicht. Die rasante Zersplitterung des zentralen gesellschaftlichen Subjekts der achtziger Jahre, der Solidarnosc, und die enttäuschten Erwartungen nach der Rückkehr der "Linken" in den neunziger Jahren führten zu sozialer Frustration, Fatalismus und politischem Desinteresse, woraus sich auch die ungebrochene Begeisterung für Kirche und Papst speist.

Zwar ist man schnell auf der Straße, wenn es um den "eigenen" Betrieb geht, hier kann auf die lange Tradition sozialer Protestformen, vom Streik bis zur Straßenblockade, zurückgegriffen werden. Undenkbar bleibt derzeit jedoch eine branchenübergreifende Solidarisierung oder gar eine allgemeine linke Perspektive. Hier ist Polen schon längst im Westen angekommen.

Wenn sich Protest politisch artikuliert, dann häufig in einer kruden national-sozialen Mischung: "Die EU ist die UdSSR ˆ rebours", sie habe eine gefährliche "sozialistisch-scholastische Ideologie", behauptet Piotr Jaroszynski, Führer der mit Radio Maryja verbundenen Vereinigung Die polnische Familie. Jan Lopuszanski, Abgeordneter der rechten Splitterpartei Unser Kreis, ist der Überzeugung, daß das "Ziel einer transnationalen europäischen Regierung nicht das Wohl der Nationen, sondern der Gewinn des Großkapitals ist, was die moralische Bindung zwischen Regierenden und Regierten zerstört".

EU-Feindlichkeit in Polen ist meist eine schwarz-braune Soße aus Antikommunismus, Bodennähe, Haß auf "fremdes" Kapital, Antisemitismus und fundamentalistischem Katholizismus. Da hilft nur noch Beten.