Menschen, Märkte, Muskelspiele

Chaos im grünen Biotop: Die einen treten aus, andere wollen immer noch von links reformieren, der Rest kämpft um den Nachlaß der FDP.

Man möchte glauben, das alles sei nie passiert: Oswald Metzgers Ankündigung, es werde, im Interesse der Haushaltskonsolidierung, "ein Heulen und Zähneklappern durch alle gesellschaftlichen Gruppen geben müssen". Oder die Forderung des grünen Haushaltspolitikers, den "Druck auf die Sozialsysteme" zu verschärfen. Oder etwa das Plädoyer der Finanzpolitikerin Christine Scheel für eine massive Senkung des Spitzensteuersatzes, um Unternehmen zu entlasten. Nicht zuletzt das von Matthias Berninger und anderen Jungliberalen verfaßte Pamphlet für den Standort Deutschland, auch "Staart 21" genannt.

All diese marktradikalen Offensiven aus den vergangenen Jahren sind längst grüne Geschichte, weitgehend überholt von der täglichen Bonner Regierungsarbeit. Das aber hat eine Handvoll Ökopaxe um den Bundestagsabgeordneten Christian Simmert nicht davon abgehalten, vergangene Woche mit einem Papier "Raus aus der neuen Mitte!" an die Öffentlichkeit zu gehen und an das linksökologische Gutmenschenherz der Parteifreunde und -freundinnen zu appellieren.

Als Reaktion auf ein von 40 Junggrünen vier Tage vorher herausgegebenes Plädoyer für einen "verantwortungsvollen Liberalismus" machten sich die verzweifelten Parteilinken auf die Suche, um "Wege zu einem klaren grünen Profil" zu finden. Eine Antwort war ohnehin notwendig geworden, schließlich hatten die neoliberalen Widersacher dazu aufgerufen, die Partei von Kriegsgegnern wie Simmert und Annelie Buntenbach zu säubern.

Vom grünen Kampfeinsatz für die Nato-Front ist jedoch in dem Schreiben der Parteilinken nicht die Rede. Dagegen machen sich die Autoren und Autorinnen in bedauernswerter Naivität für eine "reformorientierte und emanzipatorische Politik" sowie "soziale Gerechtigkeit" stark. Ganz anders als eine 16 köpfige Gruppe nordrhein-westfälischer junger Grüner, die ihre Partei unter anderem wegen des "zunehmenden Einzugs neoliberaler Prinzipien" letzte Woche ganz einfach verlassen hat, setzen die Linken um Simmert immer noch auf Veränderung. Man dürfe nicht das Erbe der FDP annehmen, heißt es da. Und weiter: "Die Zukunft der Grünen ist die einer pragmatischen Linkspartei."

Davon wollte sonst niemand in der Partei etwas wissen, als es galt, nach dem internen Desaster der vergangenen Wochen wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. So können die Linken auch kaum als Erfolg verbuchen, daß Parteirechte wie Hamburgs Wissenschaftssenatorin Krista Sager oder der Bonner Fraktionschef Rezzo Schlauch ihrem Umweltminister Jürgen Trittin nach aller innergrünen Unbill den Rücken stärkten. Unmißverständlich stellte der Stuttgarter Fisherman's-Friend Schlauch am Wochenende klar: Wer innerhalb der Partei versucht, den Farbbeutelwurf auf den Außenminister beim Bielefelder Kriegsparteitag zu verharmlosen, mit dem muß man sich "hart auseinandersetzen". Einen grundlegenden Richtungsstreit zwischen Neoliberalen und den verbliebenen Linksreformern wollte Schlauch allerdings nicht entdecken. Es habe lediglich ein "nicht gerade glückliches Zusammentreffen" zwischen dem Papier der 40 Jungrealos und den Rücktrittsforderungen an Trittin gegeben.

In den Kreisen um die Gruppierung Basisgrün wähnt man dagegen ein Komplott. Das Pamphlet gehöre in ein gemeinsames Strategie-Paket des Realo-Flügels, das darauf abziele, den linken Flügel abzuspalten, schreiben die verbliebenen Linksgrünen. Den Anfang habe Europapolitikerin Heide Rühle am 11. Juni in Aachen mit der Äußerung gemacht: "Wir können nicht mehr für beide Seiten offen sein." In der Folge stellen die Basisökos in ihrer Erklärung gegen "selbstzerstörerische Tendenzen" mit Blick auf Trittins peinlichen Auftritt in Sachen EU-Altauto-Regelung fest: Wer erwarte, daß der Bonner Umweltminister abdanken müsse, weil er in der Öffentlichkeit Schrödersche statt grüne Politik vertrete, müsse dies konsequenterweise "mit wenigen Ausnahmen von unserer gesamten Bonner Vertretung fordern".

Eine zweifellos richtige Bilanz. Und das weiß man auch im Zentrum der Partei. In der Befürchtung, während des innerparteilichen Debakels und nach Trittins europäischem Einsatz für die Autolobbyisten komplett die Bodenhaftung zu verlieren, ergriffen die Grünen vergangene Woche die Flucht nach vorne. Da hatte man sich schon beinahe damit abgefunden, daß die Grünen auch noch im Streit um den Atomausstieg klein beigeben, und plötzlich kündigte Trittin richtig Opposition an.

Die von Wirtschaftsminister Werner Müller mit der Atomindustrie ausgehandelte Laufzeit der Reaktoren von 35 Jahren werde von allen grünen Gremien abgelehnt, ließ der Umweltminister wissen. Sie müsse "deutlich unter 30 Jahren" liegen. Die Industrie spricht bislang von mindestens 32 Jahren. Auch bei anderen Punkten des sogenannten Eckpunkte-Papiers des parteilosen Müller ging man auf Konfrontation. So soll mindestens ein Reaktor in dieser Legislatur-Periode vom Netz gehen. Nach dem Willen der Grünen sollen zudem die Erkundungen eines möglichen atomaren Endlagers in Gorleben sofort unterbrochen werden. Im bislang formulierten Konsenspapier wollen Atomindustrie und Bundesregierung diese Arbeiten bis zu einem "sinnvollen Zwischenergebnis" weiterführen.

Die Angst davor, künftig überall als "Umfallerpartei" durchzugehen, trieb die Funktionäre gar zu einem neuen Schritt: Notfalls soll ein Sonderparteitag über den weiteren Verbleib in der Regierung entscheiden, wenn die Ausstiegsvereinbarungen mit grüner Programmatik "nicht kompatibel" seien, kündigte Vorstandssprecherin Antje Radcke an. Daß es nach all der grünen Zustimmung zu Nato-Bomben, Flüchtlingsabschiebungen und völkischem Staatsbürgerschaftsrecht nun ausgerechnet an dem einen oder anderen Jahr längerer Restlaufzeit für Atomkraftwerke zum Koalitionsbruch kommen wird, ist freilich nicht zu erwarten. "Die Grünen werden in Zukunft Castor-Transporte in der gleichen Art und Weise als notwendig legitimieren, wie sie es gestern mit der Bombardierung Jugoslawiens getan haben und wie sie es heute mit Kürzungen im Sozialbereich tun", prognostizieren etwa die 16 nordrhein-westfälischen Parteiaussteiger und -aussteigerinnen.

Keine Frage: Die Drohung mit dem Sonderparteitag dürfte wohl unter der Rubrik "Taktische Manöver" abzulegen sein. Tatsächlich werden führende Grünenpolitiker von Trittin bis Schlauch alles dafür tun, ein zweites Basismeeting nach dem Bielefelder Kriegsparteitag zu vermeiden, eben weil, wie die Umweltpolitikerin Michaele Hustedt vergangene Woche erklärte, das Thema Atomausstieg "an die Substanz" geht. Während die Zustimmung zur Bombardierung Jugoslawiens ideologisch durchaus mit der gründeutschen Seele zu vereinbaren war und folgerichtig auch noch einem Sonderparteitag standhielt, würde in Sachen Umwelt- und Atompolitik der Kollaps drohen. Daran läßt auch der wirtschaftsliberale Bundestagsabgeordnete Matthias Berninger keinen Zweifel: Vor allem die starke Orientierung auf den Umweltschutz unterscheidet seine Partei von der FDP. Und die will man ja schließlich ausstechen.

Naheliegend also, daß ausgerechnet marktradikale Hardliner wie Oswald Metzger und Christine Scheel die eigene Sippschaft mit ihrer Rücktrittsforderung an Trittin vor den Kopf stießen. Schon vor über zwei Jahren machte sich der schwäbische Sparkommissar Metzger dafür stark, den Schwerpunkt Ökologie mit "neuen Konzepten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik" zu verbinden. Hierfür könne Schwarz-Grün "das große Zukunftsprojekt für das nächste Jahrtausend" sein. Schlauch, selbst Verfechter einer Liaison mit der Union, ließ denn auch am Wochenende wissen, daß es an der Zeit wäre, nach der Wirtschafts-, Steuer- und Innenpolitik endlich auch die grüne Umweltpolitik "realitätstauglich" zu machen, sie also den Erfordernissen der Verwertung ohne Wenn und Aber unterzuordnen.

Freilich würde die Schwabenriege um Metzger und Schlauch derzeit kaum einen Koalitionsbruch mit Blick auf eine wirtschaftsliberale Perspektive mit der Union riskieren, zumal die ebenso mit den Sozialdemokraten zu machen ist. Dennoch wird einem geradezu schummerig, wenn die Linksgrünen um Simmert in ihrem Papier etwa ein "stärker von grüner Handschrift" geprägtes Bündnis für Arbeit einklagen. Vor allem Grüne wie Metzger seien es, kritisiert beispielsweise der sozialdemokratische Gewerkschafter und Bundestagsabgeordnete Peter Dreesen, die mit ihrer "neoliberalen Haltung" so manche Verhandlung erschwerten. Dabei ist Metzger im Gegensatz zu den Parteilinken, die sich von Rot-Grün "eine Umverteilung von oben nach unten" versprochen haben, durchaus realistisch.

Und konsequent. "Nach Feierabend denken die Leute durchaus links, linksliberal, grünalternativ", schätzte der Haushaltspolitiker 1997 die grüne Klientel ein. Sie verdienten aber gut, hätten Haus und Grundstück "und wollen von ihrer Partei eine fundierte Wirtschaftspolitik". Heute, nachdem sich die Grünen quasi von allen bürgerrechtsorientierten Aspekten des Liberalismus verabschiedet haben, bleibt freilich nur, was auch den Freidemokraten nach ihrer Niederlage gegen den Großen Lauschangriff geblieben war: der Kampf um weniger Staat und für den freien Markt.