Bündnis für Arbeit

Neuer Korpsgeist

Ach, was waren das für Zeiten: Tarifabschlüsse über dem Inflationsniveau, und das über eine halbe Dekade hinweg. Konnten sich die Gewerkschaften Anfang der siebziger Jahre noch erfolgreich gegen die von ihnen verlangte Lohndisziplin zur Wehr setzen, stehen auf der Tagesordnung der Gewerkschaftsfunktionäre heute ganz andere Punkte. Nicht zuletzt das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit: Es modifiziert die Idee des Neokorporatismus - also der organischen Zusammenarbeit von Staat, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften.

Beruhte das keynesianisch inspirierte korporatistische Modell noch auf der Annahme, daß die Gewerkschaften die von einer stärkeren öffentlichen Nachfrage ausgehenden Wachstums- und Beschäftigungseffekte nicht durch zu hohe Lohnabschlüsse konterkarieren sollten, ist das jetzige Bündnis-Modell nicht mehr keynesianisch, sondern neoklassisch angelegt. Während es den sozial-liberalen Regierungen Anfang der siebziger Jahre um die Abstimmung einer expansiven Finanz- und Geldpolitik mit einer zurückhaltenden Lohnpolitik der Gewerkschaften ging, setzt die Bundesregierung heute auf die Beschäftigungswirkung niedriger Löhne und gesenkter Unternehmenssteuern.

Dabei überdeckt die Debatte um die Einbeziehung der Tarifpolitik in die Bündnisverhandlungen lediglich, daß es auf eine weitere Lohnzurückhaltung auch aus Sicht der Unternehmen gar nicht mehr ankommt. Zum einen sind die Löhne nach 1992 so moderat gestiegen, daß die Lohnstückkosten ohnehin gesunken sind. Zum anderen stellen die steigenden Exportüberschüsse inzwischen eher ein Problem als einen unternehmerischen Vorteil dar, weil von Deutschland - anders als von den USA - keine Wachstumseffekte ausgelöst werden, sondern ein Verdrängungswettbewerb praktiziert wird.

Auch deshalb geht es beim Bündnis für Arbeit um etwas anderes als um Lohndisziplinierung: In einer Kombination aus neoklassischer Wirtschaftstheorie und neokorporatistischer Politik soll das traditionelle deutsche System korporativer Beziehungen zwischen Staat, Kapital und Arbeit transformiert werden - hin zu einem flexibleren, strikt am Standortwettbewerb orientierten. In Frage gestellt werden damit die traditionellen Institutionen der organisierten Arbeit: die Flächentarifverträge, das System der Mitbestimmung und die auf den Arbeitslöhnen basierende Sozialversicherung.

Im Unterschied zu einer marktradikalen Politik zielt das Bündnis nicht auf die Demontage und Zerstörung, sondern auf den Umbau dieser Institutionen. So trägt es die Keime seines Scheiterns schon in sich: Die Forderung nach einem Niedriglohnsektor hat es den Gewerkschaftsführern nahezu unmöglich gemacht, ein derart unsoziales Projekt zu akzeptieren. Die Unternehmer wiederum, die die politische Schwäche der Gewerkschaften wahrnehmen, drängen zu sehr auf die Aufkündigung korporativer und kooperativer Arbeitsbeziehungen.

Die Umsetzung des Bündnismodells würde die Misere auf dem Arbeitsmarkt ausweiten und die Gewerkschaften weiter schwächen. Daß sie dieser Situation wirtschafts- und tarifpolitisch konzeptionslos gegenüberstehen, hat Gründe: Zum einen fehlt es nach der Krise der keynesianischen Theorie am Denken in makroökonomischen Zusammenhängen. Die mikroökonomische Sichtweise, daß niedrigere Löhne schon Beschäftigung sicherten, hat sich durchgesetzt. Ebenso wie große Teile von Rot-Grün von der "Philosophie" des Dritten Weges, also von den Blair/Schröder-Thesen beeindruckt sind, gilt dies auch für Teile des gewerkschaftlichen Führungspersonals.

Die Kombination von neoklassischer Wirtschaftstheorie mit korporatistischer Politik markiert das Neue an der Politik von Rot-Grün. Die Gewerkschaften bewegen sich, insbesondere wenn sie die sozialen Aufsteiger repräsentieren, in vergleichbaren Denkweisen. Weil sie aber zugleich Interessenverbände abhängig Beschäftigter - und damit auch Klasseninteressen - zu vertreten gezwungen sind, können manche ihrer Vertreter der neuen Mittelklassenphilosophie des Dritten Wegs nicht so rasch folgen. Die Entscheidung darüber jedenfalls, welchen Weg die Gewerkschaften am Ende einschlagen werden, steht noch aus.

Michael Wendl ist Vorsitzender der ÖTV Bayern