Heiko Kauffmann

»Schily ist nicht Kanther«

"Aufbruch und Erneuerung" hatten SPD und Grüne ihren Koalitionsvertrag betitelt, "Aufbruch und Erneuerung" versprach die neue Regierung auch in der Ausländer- und Flüchtlingspolitik. Ließ schon der Koalitionsvertrag Schlimmes befürchten, ist seit der Machtübernahme von Rot-Grün auf diesem Gebiet vor allem eines angesagt: Kontinuität zur Politik von Ex-Innenminister Manfred Kanther (CDU). So wartet eine Altfallregelung für ImmigrantInnen, die schon seit Jahren in Deutschland leben, weiterhin auf ihre Umsetzung, und auch die frauenspezifische Verfolgung fehlt noch immer auf der Liste der Asylgründe. Was von der vielbeschworenen Betonung der Menschenrechte in der deutschen Außenpolitik zu halten ist, machte Rot-Grün mit dem Krieg gegen Jugoslawien deutlich. Heiko Kauffmann ist Sprecher von Pro Asyl.

Jahrelang hat Pro Asyl die Flüchtlingspolitik der CDU/FDP-Regierung kritisiert, während sich Grüne und SPD munter der Kritik Ihrer Organisation bedient haben. Ist davon noch etwas übriggeblieben, seitdem Rot-Grün regiert?

Wir haben bereits am Koalitionsvertrag Kritik geübt, weil darin die Asylpolitik so gut wie unerwähnt geblieben ist. Und das nach sechzehn Jahren des Stillstands, die im Bereich der Flüchtlingspolitik sogar Jahre des Rückschritts waren: Asyl- wie Ausländerrecht sind unter Kohl zu einem Fremdenabwehrrecht umgebaut worden - und dienten eigentlich nur noch der Abschrekkung. Hier wäre ein Paradigmenwechsel im Sinne der Betroffenen dringend nötig, wenn man überhaupt Konturen für eine neue Menschenrechtspolitik aufzeigen will. Rot-Grün müßte den Humanitätsanspruch der Gesellschaft wieder in den Mittelpunkt rücken. Dazu wäre der Bruch mit der ideologisch verkrusteten Asylpolitik der Ära Kohl / Kanther absolut notwendig. Doch wer nur auf Kontinuität setzt, kann keine Korrektur an den Problemen vornehmen

Glauben Sie nach einem Dreivierteljahr Rot-Grün immer noch, daß die Regierung der richtige Adressat ist für solche Appelle?

Für uns als Menschenrechtsorganisation ist die jeweilige Regierung natürlich immer wieder Adressat von Vorschlägen und Appellen, das schließt die Kritik an der Regierungspolitik ein. Es wird ja immer offenkundiger, daß die Grünen unter Chlorophyllverlust und die SPD unter Blutarmut leiden. Das heißt, daß Rote und Grüne zur Zeit keine Farbe bekennen und sich zu einem seltsam schwachen Gelb vermischen. Keine der beiden Parteien deckt das ab, was sie in der Opposition zugesagt haben. Und wenn Kerstin Müller jetzt in der Süddeutschen Zeitung resümiert, daß die Menschenrechtsorganisationen zu hohe Erwartungen an die Regierung gehabt hätten, lassen wir das so nicht gelten. Denn schließlich haben SPD und Grüne diese Erwartungen geweckt und in der Oppositionszeit auch programmatisch abgedeckt.

Wie geht eine Menschenrechtsorganisation damit um, daß die Regierung nun die Menschenrechte hernimmt, um einen Krieg zu legitimieren?

Das ist eine der größten Belastungen und für uns nicht nur unglaubwürdig - sondern unglaublich. Kein Militäreinsatz läßt sich durch Menschenrechte legitimieren - die Menschenrechte besitzen eine zivile Logik. Auch dieser Krieg bedeutet ein Versagen der Politik. In jedem Fall aber markiert er eine tiefe Zäsur in den Bemühungen um den Aufbau einer weltweiten Friedensordnung, eine tiefe Zäsur auch für die Demokratie in Deutschland, mit unübersehbaren Folgen in der Innen- wie Außenpolitik. Auch ein Krieg, der im "Namen der Humanität" oder "zur Verteidigung unserer Werte" geführt wird, zerstört und wirkt vorweg zerstörerisch auf das, was als Politik nachfolgt.

Noch im März veröffentlichte das Auswärtige Amt Lageberichte, wonach es im Kosovo überhaupt keine Gruppenvertreibung gebe. Und doch wurde damit der Kriegseinsatz begründet.

Das zeigt, daß die Eskalation im Kosovo auch auf einer Reihe von Fehleinschätzungen der deutschen Außenpolitik fußt - selbst wenn Rot-Grün dafür nicht allein die Verantwortung trägt. Hätte man das Kosovo schon in den Dayton-Vertrag miteinbezogen, wäre eine präventive Friedensarbeit noch möglich gewesen. Daß dies nicht geschah, ist kennzeichnend für den Verdrängungscharakter dieser Politik: Oberste Maxime war immer die Verhinderung der Aufnahme von Flüchtlingen.

Ein bewährtes Mittel rot-grüner Oppositionspolitiker war es immer, Abschiebestopps zu fordern - obwohl klar war, daß die Mehrheiten dafür in der Innenministerkonferenz ohnehin nicht zustande kamen. Die Kosovo-Flüchtlinge aber sollen nach dem Willen von Rot-Grün so schnell wie möglich zurück, von Abschiebestopp redet keiner.

Ich denke, daß die Aussetzung von Abschiebungen in bestimmte Länder damals von seiten der Opposition durchaus erklärter politischer Wille war - auch als Essential für eine Regierungsbeteiligung. Und den von Ihnen erwähnten Lagebericht zur Bundesrepublik Jugoslawien hat Ludger Volmer aus dem Verkehr gezogen mit der Begründung, daß das Papier keinesfalls der empirischen Wahrheit im Kosovo entsprochen habe - sondern allein aus innenpolitischen Gründen verfaßt wurde. Sogar Mitarbeiter des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sind in die entsprechenden Länder geschickt worden, um an diesen Lageberichten mitzuarbeiten - und sie so zu formulieren, daß weiter abgeschoben werden konnte. Darüber hinaus waren die Berichte immer von diplomatischer Rücksichtnahme gegenüber den Regierungen der Herkunftsländer bestimmt. Es ist gut, wenn es hier, wie angekündigt, zu grundlegenden Reformen kommt.

Aber diplomatische Rücksichtnahme kennzeichnet doch auch den neuesten Türkei-Lagebericht. Kurz vor Fischers Besuch ließ Ankara einen in Deutschland asylrechtlich anerkannten ERNK-Funktionär festnehmen, ohne daß Fischer interveniert hätte.

Wir hätten uns gewünscht, daß nicht nur wieder Hände geschüttelt werden, sondern daß Fischer die Einleitung von Maßnahmen nachhaltiger Demokratisierung der türkischen Gesellschaft gefordert hätte - wie die Amnestie aller politischen Gefangenen und z.B. die Abschaffung des Staatssicherheitsgerichts und jener Gesetze, die die Inhaftierung von Oppositionellen ermöglichen. Die Reichweite des Flüchtlingsschutzes und des Asylgesetzes muß schon so weit gehen, daß man sich der anerkannten Flüchtlinge annimmt, wenn sie mit Piraterie in ihre Verfolgerstaaten gebracht wurden. Die Bundesregierung muß sicherstellen, daß Cevat Soysal nicht gefoltert wird und einen Anwalt seines Vertrauens erhält.

Weshalb sollte Rot-Grün denn auf diesem Felde mehr erreichen, als es die alte Regierung geschafft hat? Das Rückübernahmeabkommen mit Algerien etwa hat schließlich nicht Kanther unterzeichnet, sondern Schily.

Ich möchte Schily trotzdem nicht mit Kanther gleichsetzen. Unter Kohl - von Zimmermann bis Kanther - gab es eine Asylpolitik, die vom Geist der Abwehr, der Ausgrenzung bis hin zur Kriminalisierung schutzsuchender Menschen getragen war. Statt Integration zu ermöglichen, hat die CDU/FDP-Regierung das Gegenteil aktiv gefördert. Schily erklärt zumindest etwas anderes: Er und die rot-grüne Regierung dürfen sich nicht länger von den Konservativen und Verbohrten treiben lassen, sondern müßten endlich eigene und innovative Signale für eine menschenrechtlich orientierte Flüchtlingspolitik setzen. Etwa bei der uneingeschränkten Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung, bei der Durchsetzung der Kinderrechtskonvention, im Bereich der angekündigten Härtefall- und Altfallregelung.

Aber waren Politikerinnen wie Claudia Roth, die nun den Menschenrechtsausschuß des Bundestages leitet, für Pro Asyl nicht viel wertvoller, als sie noch in der Opposition saßen - und nicht den Alibiposten innehatte, den eine Regierung braucht, um Krieg zu führen?

Claudia Roth ist für mich ein Aktivposten der neuen Koalition. Die Arbeit im neugeschaffenen Menschenrechtsausschuß muß aber so strukturiert werden, daß wichtige Anliegen nicht nur erörtert, sondern auch in das Parlament eingebracht werden. Durchaus auch im Sinne des Verfassungsjuristen Schily müßten die menschenrechtlichen Defizite der bundesdeutschen Politik gemessen an Völkerrechtsnormen abgebaut werden. So hat die rot-grüne Bundesregierung im Koalitionsvertrag nicht nur die Überprüfung notwendiger ausländerrechtlicher Veränderungen im Lichte internationaler Vereinbarungen zugesagt, sondern auch, ein Gesetz gegen Diskriminierung und zur Förderung der Gleichbehandlung auf den Weg zu bringen.

Braucht es dazu nicht den außerparlamentarischen Druck, der beim Kampf um den Artikel 16 in den Jahren 1992/93 noch da war? Die Grünen, die damals noch so etwas wie der parlamentarische Arm dieser Bewegung waren, stehen ja inzwischen auf der anderen Seite der Barrikade.

Viele an der Basis der Grünen und auch der SPD sind unzufrieden über das menschenrechtliche Minus der Regierung. Ich denke, daß die Vernetzung der NGOs und Menschenrechtsorganisationen und sozialen Bewegungen - auch international - in nächster Zeit einen großen Schub erleben wird, der die Politik und den innergesellschaftlichen Diskurs zunehmend beeinflussen wird. Gerade der Kosovo-Konflikt, aber auch der Umgang mit dem Kurden-Konflikt in der Türkei zeigt, daß wir von einer überzeugenden Menschenrechtspolitik - und präventiven Friedenspolitik noch weit entfernt sind. Jeder Flüchtling ist ein Symbol dafür, daß irgendwo in der Welt der Menschenrechtsschutz versagt hat. Gradmesser für die Umsetzung der Menschenrechte auch in Deutschland ist deshalb immer die Bereitschaft, Flüchtlinge aufzunehmen und das Maß an Schutz und Rechtssicherheit, das man ihnen hier gewährt.