Gysis "Zwölf Thesen"

Godesberg lebt!

Gregor Gysi hat ein Gespür fürs richtige Timing. Ist die SPD erst ruiniert, dachte sich der PDS-Bundestagsfraktionschef, lebt's sich gänzlich ungeniert. Und legte los: Mit einem 21-seitigen Papier machte Gysi am Dienstag gegen das von Gerhard Schröder und Tony Blair entworfene sozialdemokratische Modernisierungskonzept mobil. "Gerechtigkeit ist modern", titelte der PDS-Frontmann seine "Zwölf Thesen für eine Politik des modernen Sozialismus" und kramte so ungefähr alles aus der Phrasen-Kiste, was einen ordentlichen linken Sozialdemokraten heute auszeichnet: sozialökologischer Umbau, Modernisierung der Arbeitsgesellschaft, nachhaltige Entwicklung.

Wirklich neu ist in dem als Erstlingswerk von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg herausgegebenen Werk wenig. Da werden Ökosteuern gefordert, "die tatsächlich regulieren", und eine soziale Grundsicherung eingeklagt, die sowohl die gesetzliche Renten- als auch Arbeitslosenversicherung ersetzen soll - ein Gedanke, der selbst in den Reihen der FDP längst diskutiert wird. Im Arbeitsbereich setzt der PDS-Mann auf die von den Grünen fast ein Jahrzehnt anvisierte "neue Kombination der bezahlten Erwerbsarbeit mit schöpferischer Eigenarbeit".

Das alles klingt ungefähr so spannend wie die Ziele, die mit der Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt verbunden sind: die anstehenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Berlin. Vor allem im Osten ist die Zahl der Modernisierungsgewinner, die von Schröders Kurs der Neuen Mitte profitieren, eine kleine Minderheit. Jene Mehrheit hingegen, die ihre Hoffnungen in eine linke Orientierung der SPD gesetzt hat, dürfte spätestens mit der neoliberalen Offensive des Kanzlers von der Partei Abschied genommen haben. Nun gilt es also, rechtzeitig das Erbe aufzugreifen, um sozialdemokratische Partei anstelle der Sozialdemokratischen Partei zu werden. Die zweite Vereinigung steht an. Daß die Sozialisten hierzu keine inhaltlichen Verrenkungen mehr nötig haben, zeigen die Erfahrungen der rosa-roten Connection in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Kaum eine Regierung verläuft reibungsloser, Streitigkeiten gab es allenfalls um den einen oder anderen Sozialarbeiter-Posten.

Auf die Mühen des Mitregierens hat sich Gysi längst eingestellt. So bringt er nicht nur die private Altersversorgung ins Gespräch, sondern spricht sich dafür aus, daß Lohnerhöhungen gegenüber Flexibilisierung und betrieblicher Mitbestimmung in den Hintergrund treten sollten. Mit einem entschiedenen Sowohl-als-auch soll seine Partei Wählerstimmen gewinnen. Damit knüpft Gysi traditionsbewußt an das Godesberger Programm der Sozialdemokraten an. Folgerichtig stellt sich der PDS-Frontmann vor allem mit keynesianistischen Nostalgikern wie dem Lafontaine-Intimus Reinhard Klimmt gut. Wie der saarländische Landeschef moniert Gysi denn auch die Geringschätzung, mit der Schröder und Blair auf die "Errungenschaften des sozialdemokratischen Zeitalters" herabsehen. Und folgert: "Die Ära neoliberaler Zerstörung des Nachkriegssystems sollte nicht nur durch eine sozialdemokratische Episode der Schadensbegrenzung unterbrochen, sondern durch eine Epoche moderner sozialistischer Politik abgelöst werden."

Wie diese halluzinierte Vermengung von Moderne und Sozialismus aussehen soll, kann Gysi auch nicht genau erklären. Zumal es "nicht um die Abschaffung der Märkte, sondern um andere Märkte" und nicht um die "Unterdrückung unternehmerischer Initiative, sondern um neue Rahmenbedingungen" gehe. Das klingt nach Sozialpartnerschaft, wie man sie in Deutschland seit langem kennt. Aber da will ein Sozialist freilich nicht stehen bleiben: Sozialistische Politik bedeute nämlich, "die Entwicklungspotentiale des Wettbewerbs in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Bildung, Medien und Kultur von der Dominanz der Kapitalverwertung zu befreien bzw. sie davor zu bewahren und ihre patriarchale Verfaßtheit zu überwinden".

Also Kapitalismus ohne Warenfetisch und kapitalistischen Wettbewerb? Soll etwa doch Adolf Hennecke einspringen? Saperlott, so weit haben sich nicht mal die Genossen und Genossinnen von der Stamokap aus dem Fenster gelehnt. Aber vielleicht kann uns ja die Rosa-Luxemburg-Stiftung demnächst verraten, wie das funktionieren soll.