Krise, Krieg und Paranoia

Die Krise der Ökonomie demontiert die Zurechnungsfähigkeit der kriegführenden Subjekte.
Von

Der linke Alltagsverstand, dessen Horizont nie weiter reichte als "Kein Blut für Öl", droht daran irre zu werden, daß "das Kapital" im Krieg gegen Jugoslawien kein übermäßiges Interesse mehr für die Ziele hegt, die ihm unterstellt werden: Weder für die "Kontrolle der Erdöl- und Erdgasrouten des Nahen Ostens" oder für "Osteuropa, das für die westlichen multinationalen Konzerne ein ergiebiges Reservoir von Rohstoffen und Arbeitskräften ist", noch für "die Schwächung und Beherrschung von Rußland, um zu verhindern, daß Rußland die Erdölquellen oder andere Rohstoffe der ehemaligen UdSSR kontrolliert" oder für "die Sicherung von Militärbasen" (alle Zitate stammen aus einem Flugblatt der Besetzer der Berliner Geschäftsstelle der Grünen).

Worum aber ging es dann? Und warum ausgerechnet in Jugoslawien? In seinem Dossier über den "globalen Krisenkapitalismus und den Balkan" in Jungle World 19/99 kommt Robert Kurz des Rätsels Lösung sehr nahe, obgleich er das Thema "Was ist der Kriegsgrund?" am weitesten verfehlt.

Im Gegensatz zu den von Welteroberungsphantasien besessenen Stammtischstrategen, die das Kosovo allen Ernstes mit dem Erdöl in Aserbeidschan in Verbindung bringen, weiß er um das neue Krisenstadium, in das diese widersprüchliche Identität zwischen "fungierendem" und "zinstragendem Kapital" (vgl. MEW 25, S. 390f.) kraft eigenen Prozessierens und ohne äußerliche Zutat das "warenproduzierende Weltsystem" gestürzt hat.

Zutreffend kennzeichnet er dessen Zustand so: "Nicht mehr die Gütermärkte, sondern die Aktienmärkte bestimmen den ökonomischen Prozeß wesentlich. Freilich nicht im Sinne einer bloß äußerlichen Dominanz des Finanzkapitals über das Industriekapital (wie in der verkürzten Imperialismustheorie von Lenin und Hilferding), sondern als finanzkapitalistische Simulation und damit als Form des Krisenaufschubs.

Das ist nur logisch, denn (...) nur durch den Vorgriff auf zukünftige 'Arbeit' und damit auf zukünftigen Mehrwert kann das System am Laufen gehalten werden. Bezog sich der Kredit jedoch in der fordistischen Ära tatsächlich noch auf die industrielle Produktion, so hat sich das Finanzsystem als Folge der dritten industriellen Revolution inzwischen völlig verselbständigt. Die Finanzmärkte sind daher an Stelle der Notenpresse zu einer scheinbar autonomen Geldschöpfungsmaschine mutiert. Das Verhältnis von Gütermärkten und Finanzmärkten hat sich auf den Kopf gestellt. Es kann praktisch nur noch real produziert werden, wenn ein Zufluß transnationalen Fondskapitals stattfindet. Dieses global fluide Geldkapital schlüpft allerdings selber nicht mehr in die Haut von Realinvestitionen, sondern macht diese von sich abhängig. Sie werden de facto aus Aktien-emissionen und Kurssteigerungen bezahlt."

Indem er diese neue Gestalt des Kapitalismus festhält gegen die Freunde der Naturalform der Ware und des Konkreten (in diesem Fall: Erdöl und Chrom), das von jeher eine Täuschung war und die "geostrategischen" Antiimperialisten der Lächerlichkeit preisgibt, könnte er auch Zugang zu dem rätselhaften "neuen Typus des Krieges" gewinnen. Die immer wieder hinausgeschobene Krise, von der niemand mehr sprechen möchte, die alle aber im stillen umso mehr ahnen und befürchten, demontiert nicht nur das objektive Interesse an Eroberungen und Bodenschätzen, sondern auch die Zurechnungsfähigkeit der Subjekte, durch deren Handlungen erst sich das Verhängnis Bahn bricht.

Diese Verbindung zwischen der aufgeschobenen Krise der Ökonomie und der ihr vorauseilenden Krise der kollektiven Wahrnehmung - auch und gerade der politischen und militärischen Entscheidungsträger in den westlichen Staaten - ist bei Kurz Anathema.

Das fast wie einer inneren Zwangsläufigkeit gehorchende Eskalationsschema der westlichen "Wertegemeinschaft" gegenüber Jugoslawien von der Provokation zum Krieg läßt sich nur mit dem Verhalten einer Diebesbande vergleichen, die einen Einbruch begeht, obwohl sie weiß, daß der zu knackende Safe nicht nur leer, sondern auch gut bewacht ist, und die obendrein schon während des Einbruchs um die nicht vorhandene Beute rangelt.

Ein solches Verhalten ist schlicht paranoid und somit Vernunftgründen nicht zugänglich; das gilt aber nicht für die handlungsleitende Paranoia selber. Diese ist eine Reaktionsbildung auf die tatsächlich den Händen der Akteure entglittenen ökonomischen Handlungsbedingungen; eine Paranoia, die sich noch dadurch steigert, daß die Handelnden vordergründig alle politischen Zügel in der Hand halten.

Die Führer der Staaten verhalten sich dabei im Großen nicht anders als ihre Untertanen im Kleinen. Wie diese eine Hausse der Telekom-Aktien erwarten, weil ein ehemaliges deutsches Staatsunternehmen einfach nicht pleite gehen kann, regiert jene die Vorstellung, daß eine gelungene Militäraktion das Fondskapital zur Anlage im jeweiligen Währungsraum bewegt.

Zwar hat die Marktdurchsetzungsfähigkeit der Konzerne, an denen die Fonds sich beteiligen sollen, herzlich wenig damit zu tun, welcher Staat welche und wieviele Bomben auf ein ökonomisch längst abgeschriebenes Territorium werfen kann und welcher nicht. Gerade aber weil dazwischen so gut wie kein vernünftiger Zusammenhang besteht, ist der ihm widersinnig beigemessene um so entscheidender.

In der kompletten Psychologisierung der Investitionsvorgänge spiegelt sich nicht nur das Unwissen der Fondsmanager - die darin dem Kapitalisten alten Schlages gleichen - darüber, wie aus Geld mehr Geld wird. Sie geben damit auch das Vorbild der hoffnungs- und beutelosen Raubzüge der merkwürdigen Räuberbande aus Ministern und Regierungschefs. In den Händen beider Gruppen ist die technische Allmacht konzentriert, zugleich sind sie ebenso real dem kapitalistischen "Schicksal" unterworfen. Diese Kombination ist der unbegriffene, aber um so tiefer sitzende Ausdruck der vollzogenen Ablösung des schrankenlosen Kredits von den schrumpfenden Akkumulationsmöglichkeiten.

Die handlungsfähige Ohnmacht münzt bei den einen, den Fondsmanagern, die durchaus berechtigte Furcht vor dem als Naturkatastrophe hereinbrechenden Crash in hektische Geschäftigkeit um, die versucht, das Unheil zu wittern, um es um so gewisser herbeiführen zu helfen.

Der Teufelskreis, daß gerade durch die Kreditvergabe in hoch rationalisierte Sektoren die gesellschaftlich durchschnittliche Profitrate im Weltmaßstab sinkt - d.h. immer größere Teile der Welt im kapitalistischen Sinne wertlos werden -, verschärft ebenso unbegriffen auch bei den anderen, den Politikern und Generälen, die Panik. Daher die Rastlosigkeit und Quasi-Naturhaftigkeit der sich selbst ihrer Objekte beraubenden Konkurrenz, die deshalb an der politischen Oberfläche als ziellose Rivalität um ihrer selbst willen erscheint.

Die Schizophrenie des Tauschsubjekts, einerseits Handelnder, andererseits Getriebener zu sein, schreit geradezu nach der Handlung, die das Getriebensein sistiert. Da es ja so scheint, als ob das Schicksal in der eigenen Hand läge, sucht man sein Heil beim Stärkeren - ungeachtet der Tatsache, daß dessen politisch-militärische Stärke kaum darüber entscheidet, ob eine Investition die in sie gesteckten Zinserwartungen auch erfüllt.

Es kehrt ein Muster zurück, das paradoxerweise wieder zu einem Zeitpunkt unwiderstehlich wird, wo es eigentlich seine systemimmanente Berechtigung verloren hat. Weder ist das Fondskapital durch nationale Revolutionen und Enteignungen ernsthaft zu gefährden, weil ein Federstrich mittlerweile ganze Staaten zusammenbrechen lassen kann (Indonesien). Noch drohen deswegen überhaupt Fährnisse dieser Art in einer Welt, die sich um potentieller Investitionen willen wechselseitig zugrundekonkurriert. Nur gegen diese verschwundenen Gefahren aber zählte militärische Macht; nur gegen sie mußte man aus ökonomischen Gründen Regierungen erheben und stürzen, auswärtige Besitzungen erobern oder doch zumindest kontrollieren.

Weil aber die einzige verbliebene Gefahr für den Kredit seine eigene, notwendige Wirkungsweise in der Akkumulation darstellt, er also sich selber die einzige, dafür aber auf längere Sicht definitiv tödliche Gefahr ist, kehrt ein Kultus der Stärke zurück, den die bürgerliche Ideologie in ihrer Frühzeit abschüttelte, was ihrer Ökonomie nur teilweise und auf Widerruf gelingen konnte.

Dieser Regressionsschub steht in direkter Erbfolge des ersten Schubes im Gefolge der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre und übertrifft ihn an Paradoxie: Gerade die gelungene Entfernung der Kapitalmärkte von den Gütermärkten, die die Verlagerung vom Industrie- zum Finanzkapital im Zuge der sogenannten zweiten industriellen Revolution bei weitem übertrifft, führt zu einer Vergötzung der Willkür, als die die Ohnmacht vor dem stummen Zwang sich stets verkleidet - als ob die Börsen sich wirklich nach den außer-ökonomischen Mächten richten würden. Die "Flucht" des Anlagekapitals in den Dollar oder ins Pfund erscheint als Moment der militärischen Aggressivität der emittierenden Länder und ihrer Regierungen.

Börsenberichterstattung wird so zur veritablen Frontberichterstattung. Unter dem Titel "Der Euro: ein Kriegsopfer", stellt der Tagesspiegel vom 8. Mai diesen Zusammenhang - den es von der Sache her eigentlich nicht gibt, dafür tat-sächlich um so mehr - wie völlig selbstverständlich hin: "Die Luftangriffe beschleunigen den Verfall der neuen Währung gegenüber dem Dollar." Und weiter: "Der Verlauf des Nato-Kriegseinsatzes hat überdeutlich vor Augen geführt, daß die USA dominieren und die 17 europäischen Nato-Länder, allen voran Deutschland, wie stumme Fische (...) den USA in Europa militärisch freie Hand lassen."

So kehrt unversehens das Beuteschema ohne Beute gerade dadurch zurück, daß es längst überflüssig wurde; als archaisch anmutender Konflikt um etwas, von dem die Beutejäger ganz genau wissen, daß es das Gegenteil von Beute ist, als Eroberungsökonomie, die gar nichts erobern möchte, sondern nur die Anleger beruhigen, obwohl diese am Krieg völlig desinteressiert sein müßten.

Ein Diktum Max Horkheimers, das auf das Ende des klassischen Liberalismus in der faschistischen Planwirtschaft gemünzt war, bestätigt sich auch in der Krise des Retortenliberalismus der formierten Gesellschaften: Daß nämlich die allerjüngste Form der Ökonomie zugleich die Rückkehr ihrer allerältesten Form ist - als Krieg um Naturresourcen.

Dieser Schein ist so durchsichtig wie zwingend: Die Fiktion der Naturalwirtschaft im Nationalsozialismus wurde durch die Abkoppelung des Nationalkredits von der Golddeckung ins Werk gesetzt; heute inszeniert der abgekoppelte Kredit mittels seiner Charaktermasken einen Ausscheidungswettbewerb, dessen Kriterien sich paradoxerweise nach der Eignung für die archaischste Form des Erwerbs, des kriegerischen Überfalls, bestimmen.

Insofern erhaschen die Phantasmen der linken Geostrategen sogar einen Zipfel der Realität, die sich beeilt, dem Wahn, so gut sie kann, entgegenzukommen. Die Einschränkung "so gut sie kann" heißt, daß absolut niemand nach Baku vordringen will, aber es durchaus möglich ist, daß plötzlich alle so tun, als ob sie es wollten, nur um wiederum zu zeigen, daß sie es könnten.

Das autonome Subjekt, das kühl Vor- und Nachteil seines Handelns abwägte, ist verschwunden zugunsten eines Typus von Angst- und Neidbeißer. Der rationalisiert sein Verhalten als moralisch begründetes Recht, da das klassische Recht für ihn jeden Sinn verloren hat. Dieses sieht nämlich von subjektiven Intentionen bewußt ab und setzt ein wechselseitiges Interesse an der Existenz und Unbeschadetheit des Konkurrenten voraus, der aber als Tauschpartner auch Medium der eigenen Selbsterhaltung war - und nicht nur Spiegel der eigenen Überflüssigkeit.

Für das, was Clinton, Blair, Schröder, Fischer, Herzog und Scharping als Recht bezeichnen, gilt das gleiche, was Horkheimer für die Ökonomie feststellte: Seine neueste Gestalt ist zugleich seine älteste.

Offener denn je tritt nun zutage, was den Bürger insgeheim schon immer umtrieb. Wolfgang Pohrt notierte dazu bereits 1982: "Paranoide Angst, die den Angreifer fürs eigene Bewußtsein in den Bedrohten verwandelt, trieb, von der Eroberung Südamerikas bis zum Nachrüstungsbeschluß, den Bürger unanhaltbar voran. Die Angriffslust kann man, wie jede Lust, verlieren; nicht aber den Selbsterhaltungstrieb (...). Die Lust, in Afrika Schwarze zu jagen, hätte einmal erlahmen können; nicht so der Pflichteifer, im Kongo das Vaterland zu verteidigen und die abendländische Welt zu retten."

Die Feststellung Jürgen Habermas' in der Zeit vom 29. April, daß der Krieg - wie Deutschland, das ihn vom Zaun brach - zivilisierter geworden sei, weil es an "militaristischer Begeisterung" für ihn fehle, deutet aufs glatte Gegenteil des Behaupteten hin: Das Töten ohne Begeisterung ist - einmal angefangen - wahllos und fast unmöglich zu beenden, denn Begeisterung kann erlöschen, wenn sich die erwünschten Ziele nicht einstellen. In einer definitiv unbrauchbar gewordenen Welt gibt es keine Ziele, sondern nur als moralische Pflicht empfundene Zwanghaftigkeit, die das Morden steuert. Der "Gewissenskrieg" (Zeit, 10. Juni 1999) ist ein gewissen-hafter Krieg.

Der Text wurde redaktionell überarbeitet und gekürzt. Die vollständige Fassung findet sich in Bahamas, Nr. 29.