Berliner Olympiastadion

Schale Witze

Gefährliche Orte LXIX: Nur weil sich bisher noch niemand getraut hat, das Berliner Olympiastadion abzureißen, müssen Schalensitzmonteure Überstunden machen

Wahrscheinlich ist Deutschland doch nicht böse. Denn vermutlich gibt es nur böse. Denn vermutlich gibt es nur wenige ökonomisch bedeutende Staaten, die ein Problem damit haben, in ihrer Hauptstadt einen internationalen sportlichen Wettkampf austragen zu können. Vielleicht ist deswegen Berlin ja auch ganz sympathisch und Hertha BSC ein knorke Fußballverein?

Gewagte Gedankenspiele, aber schließlich bringt die tollste Berliner Sommergeschichte auch den hartgesottensten Hauptstadt-Hasser ins Grübeln: Seit gut zwei Wochen läuft im Charlottenburger Olympiastadion das "Schalensitz-Rennen" (B.Z.). Bis zum 11. August müssen in der Spielstatt von Hertha BSC 36 000 Einzelsitzplätze montiert sein, damit der europäische Fußballverband Uefa die Arena für das Champions-League-Qualifikationsspiel am Abend freigibt.

Fest eingebaute Schalensitze gehören nach dem Reglement der Uefa nämlich zur Grundausstattung eines international bespielbaren Stadions. Damit soll verhindert werden, daß Ausschreitungen eskalieren und sich Katastrophen wie die im Brüsseler Heysel-Stadion wiederholen. Denn auf den Sitzen läßt es sich nur schlecht stehen, die Fans können nicht so schnell nach vorne stürmen, und die Sitze sind nicht so leicht herauszureißen wie die Bänke, um anschließend damit irgendwelchen Schabernack anzustellen.

Im Olympiastadion gab es bisher 15 000 von diesen prima Sitzen, die restlichen 60 000 Zuschauer mußten sich mit harten Holzbänken abgeben. Für das Spiel am heutigen Mittwoch hat sich die Uefa sogar zu einer Sonderregelung für die quengelnde Hertha hinreißen lassen, immerhin 16 000 Karten dürfen auch für Bänkchen-Plätze verkauft werden. Alle anderen Zuschauer müssen jedoch auf anständigen Plätzen untergebracht werden.

Nach einigem Hin und Her zwischen Verein und Senat hat sich Bausenator Jürgen Klemann (CDU) zu einer Finanzierungszusage durchringen können. 36 000 Klappsitze sollen das Ansehen der Stadt retten.

Seitdem wurde neben jeder Millennium-Uhr der Stadt noch ein Zähler für den Klappsitz-Countdown installiert. Denn Zeit ist feige, sie läuft einem immer davon. Alle Lokalblätter von der B.Z. bis zur taz haben in den letzten Wochen täglich den aktuellen Klappsitz-Stand notiert. An den ersten zwei Tagen wurden gerade jeweils 500 Stühle montiert, am dritten waren es schon 1 000. Am vierten Tag stieg die Klappsitzsumme auf schlappe 2 800 - zu langsam, meinte die Berliner Zeitung und monierte eine "schleppende Bestuhlung".

Diese Notlage erforderte einen Krisenstab: Am Nachmittag des 29. Juli wird im Hause des Bausenators eine Krisensitzung einberufen. Es ist wie im Osten: Lieferschwierigkeiten. Bis zum Showdown seien höchstens 24 000 Klappsitze zu beschaffen. Jetzt müssen auch Schalensitze her. Bunt oder blau? Die ortsansässige Presse ist ratlos.

Ab sofort wird die Schalensitz-Frage zur Chefsache erklärt. Klemann schlägt ein Leichtzelt im Stadion auf und versichert jeden Tag, daß "wir die Sache voll im Griff haben". Notfallpläne mit Bundeswehr und Technischem Hilfwerk werden ausgearbeitet, Schalensitzreserven in anderen Stadien der Stadt und in ganz Deutschland gesichtet, der Regierende kündigt sein Kommen an und die gesamte Berliner Bevölkerung wird zur Mithilfe aufgerufen. Vergessen sind die Trümmerfrauen, fortan wird in Berlin nur noch von den Schalensitzmännern gesprochen - vorausgesetzt ihnen gelingt das "Schalensitz-Wunder" (B.Z.).

Ende letzter Woche geht die Montagefirma auf Dreischicht-System, um das Unmögliche doch noch zu schaffen, Schüler und Studenten werden zum Stundenlohn von etwa zehn Mark angeheuert. Und die finden das gar nicht so schlimm: "Am Wochenende arbeite ich freiwillig, damit die Stühle rechtzeituig fertig werden", erzählt Schüler Jens Waldo der B.Z. Auch 47 Freiwillige der Stadtreinigung BSR kümmern sich am Samstag um die Bestuhlungsfrage. Dirk Kaschube von Hertha BSR aus Spandau: "Ich finde es wichtig, daß unser Stadion Sitze hat."

Und die Arbeit auf dem Reichssportfeld ist gar nicht so einfach. Die Klappsitze müssen mit drei Schrauben auf den maroden Stadionbeton montiert werden. Für einen Schalensitz braucht man sogar vier Schrauben, die direkt in die bestehenden Sitzbänke gedreht werden. Und das bei der Hitze.

Kein Wunder, daß sich der vermeintliche Ebola-Fall in Berlin dagegen nicht als Sommerthema durchsetzen konnte. Denn wenn jeden Tag alle Berliner, die nicht in den Sommerferien sind, um das Schicksal eines Nazi-Stadions fiebern, muß sogar das fiese Gelbfieber zurückstehen. In der Hauptstadt hat das Olympiastadion nämlich einigen Symbolwert. Immerhin werden hier seit 1985 die Finals des DFB-Pokals auch ohne Schalensitze ausgetragen. Eines der wenigen Sportereignisse in einer Stadt, in der der beste Fußball immer noch mittwochs im Görlitzer Park gespielt wird. Und in dieser Stadt sollen die Spiele der Fußball-WM 2006 ausgetragen werden, falls Deutschland nach dieser Geschichte noch eine Chance auf den Zuschlag hat.

Seit den größenwahnsinnigen Plänen zur Olympiabewerbung 2000 wird in der Stadt eifrig über Umbau oder Abriß des Objekts diskutiert. Gerade Mitte Juni mußte der Senat den Investorenwettbewerb zur Sanierung abbrechen, weil niemand ein schlüssiges und finanzierbares Umbau- und Nutzungskonzept vorweisen konnte. Allein die Holzmann AG bewies in dem Wettbewerb Charakter, indem sie für die "Wembley-Variante" plädierte: abreißen und neubauen. Das wäre so einfach. Der vom Senat favorisierte Plan der Architekten Gerkan, Merg und Partner einer umfassenden Sanierung und Erneuerung dagegen würde 580 Millionen Mark kosten, von denen das Land Berlin und der Bund gerademal 100 Millionen aufbringen wollen, den Rest sollen die in solchen Fällen immer gern herangezogenen privaten Investoren zahlen - aber die gibt es natürlich nicht.

Jetzt wird erstmal für die Sitze gezahlt. 100 Mark pro Hintern, dazu kommen die 150 Mark, die im Falle einer Sanierung für den anschließenden Aus- und Wiedereinbau anfallen. Der Stuhlstand erreicht am Samstagabend die 27 000, die Schrauber haben mächtig zugelegt. Vielleicht schaffen sie's ja doch noch? Aber wozu? Nur weil ein zweitklassiger Verein, der zufällig in der ersten Liga weniger schlecht abgeschnitten hat als die anderen, gegen einen anderen zweitklassigen Verein spielen soll? Bisher wußte sogar noch niemand zu sagen, wer denn eigentlich Herthas Gegner sein wird. Erst am Wochenende drang in die Redaktion das Gerücht durch, daß es eine Mannschaft aus Zypern sein soll. "Famagusta" wird mir gerade zugerufen. Ist das nicht was mit Fisch?

Egal, für die 7 500 Hertha-Fans, die sich am vergangenen Freitag zum Testspiel gegen den FC Barcelona ins Jahn-Stadion verirrten, hätten auch die alten Schalensitze im Olympiastadion locker ausgereicht.