Barrikaden an der Unam

Die Streikbewegung an der größten mexikanischen Universität radikalisiert sich

Seit die Kundschaft sich immer weniger auf dem Campus blicken läßt, laufen die Geschäfte für die meisten Straßenhändler auf dem Gelände der Unam (Universidad Nacional Aut-noma de México) schlecht. Grund für die Flaute ist der bereits über 110 Tage anhaltende Streik der Studierenden gegen die Reformpläne des Rektors der Universität, Fransisco Barnés de Castro.

Barnés hatte im Februar vorgeschlagen, die Studiengebühren von derzeit 20 Centavos (etwa fünf Pfennig) auf 2 040 Pesos (510 Mark) zu erhöhen. Zusätzlich sollten Einrichtungen der Universität wie Bibliotheken oder Laboratorien die Möglichkeit gegeben werden, für die Benutzung Gebühren zu erheben. Seither wird die Universität bestreikt. Anfang August kam es zu harten Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Warnstreiks und Demonstrationen der Studierenden hielten den Universitätsrat nicht davon ab, im März den Vorschlag des Rektors unter undurchsichtigen Umständen zu ratifizieren. Das Gremium versammelte sich nicht nur das erste Mal in seiner Geschichte außerhalb der Universität, viele Abgeordnete wurden auch nicht rechtzeitig über den Ort und die Zeit unterrichtet. Von 132 Abgeordneten fehlten bei der Abstimmung 35, darunter 28 studentische Vertreter. Nach der Weigerung der Universitätsverwaltung, in einen Dialog mit den Studierenden zu treten, kam es am 20. April zum unbefristeten Streik, der nach wie vor andauert.

Dem Konflikt in der Unam wird große Bedeutung beigemessen, weil er wegen der herausragenden Bedeutung der Universität im mexikanischen Bildungssystem exemplarisch erscheint. Grund hierfür ist nicht nur die enorme Anzahl der Studierenden an der Unam, sondern auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Daher haben sich im Lauf des Konflikts mehrere andere Universitäten mit Warnstreiks und Kundgebungen solidarisch gezeigt.

Bereits am ersten Tag des Streiks in der Unam nahmen 223 000 der insgesamt 270 000 Studierenden nicht an Vorlesungen teil. Bis heute finden keinerlei Seminare statt, der ansonsten rege Verkehr innerhalb des Campus ist vollkommen erlahmt. Das Bild prägen statt dessen vereinzelte Fahrradfahrer und verbarrikadierte Gebäude. Zwei Drittel aller Forschungsprojekte des Landes, die in der Unam stattfinden, sind zum Erliegen gekommen. Maßgeblich für diese organisatorische Leistung ist die Gründung des Allgemeinen Streikrats (Consejo General de Huelga, CGH).

Der CGH fungiert als zentrales Organ der Bewegung: Jede Fakultät sendet einen Repräsentanten in das Gremium, in dem auch Vertreter der "Preparatorias", auf die Universität vorbereitende Schulen, sitzen. Unterhalb des CGH wurden in allen Fakultäten Versammlungen organisiert, in denen die Vorschläge des CGH diskutiert und ratifiziert werden.

Konzentrierte man sich anfangs auf die Rücknahme der Studiengebühren, folgten sehr bald auch Rufe nach einer Demokratisierung der Universität. Der CGH verlangte nach einem universitären Kongreß, der unter Beteiligung aller Statusgruppen ein Konzept für eine bessere Partizipation erarbeiten sollte.

Mittlerweile reicht der Horizont der Bewegung klar über die Grenzen der verbarrikadierten Universität hinaus. So erklärt Isabel Rosario Gonz‡les, Vertreterin der Kommission des CGH für Öffentlichkeitsarbeit, gegenüber Jungle World: "Die Situation in der Unam ist ein Symptom für die politische Lage in unserem Land. Der allgemeine Autoritarismus zeigt sich in der diktatorischen Form der Einführung der Gebühren."

Viele Flugblätter erklären den Präsidenten Ernesto Zedillo zum Feind und die Unternehmer, die Medien und die Kirche zu dessen Handlangern. Diesen wird "das Volk" gegenübergestellt, die "von unten", denen sich die Bewegung verpflichtet fühlt. Den eigentlichen Dämon aber sehen die Studierenden im sogenannten Neoliberalismus. Er erscheint in den Institutionen von Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Damit liegen die Studierenden nicht vollkommen falsch. Nach Dokumenten, welche die Wochenzeitung Proceso veröffentlichte, haben die Weltbank und die OECD sich bereits vor zwei Jahren zum mexikanischen Bildungssystem geäußert. Zwecks Einsparungen im Bildungsbudget wollen die beiden Institutionen die Gebühren angehoben sehen. Darüber hinaus schlug die Weltbank vor, private Darlehen für Studierende einzuführen, um die Einschreibungen in die zahlreichen privaten Universitäten des Landes zu fördern. Für die OECD hingegen sind die gekürzten Budgets bereits leidige Tatsache, der man sich durch Gebühren anzupassen habe.

Beide Institutionen beschwerten sich über die mangelnde Anpassungsfähigkeit der öffentlichen Universitäten an die Bedürfnisse der Wirtschaft und warfen ihnen "ideologische Ausrichtung" vor. Die Empfehlung der Weltbank war Teil eines Finanzierungsprojekts der Unam in Höhe von 180 Millionen Dollar, die im Juni dieses Jahres gezahlt werden sollten. Bislang ist auf den Konten der Universität kein entsprechender Eingang zu finden.

Die Studierenden bemängeln aber nicht die schlechte Zahlungsmoral der Institution. Am Ende des Projektes des radikalen Liberalismus, das in Mexiko seit 1982 betrieben werde, sehen sie den "Ausverkauf des Landes", wie es auf vielen Flugblättern heißt. So wird die Einführung einer Studiengebühr in einen Zusammenhang mit der bevorstehenden Privatisierung der Stromwirtschaft und der staatlichen Erdölgesellschaft Pemex gebracht.

Dadurch wird eine umfassende Vernetzung der Streikbewegung mit anderen sozialen Bewegungen möglich. Die Gewerkschaft der Arbeiter der Stromwirtschaft (SME, Sindicato Mexicano de Electricistas) beispielsweise unterstützt die Studierenden seit Beginn des Streiks, ebenso die Gewerkschaft der technischen Angestellten der Universität (STUnam, Sindicato de Trabajadores de la Universidad Aut-noma de México), deren Mitarbeiter im Gespräch mit Jungle World hervorheben, daß viele der bei ihnen organisierten Angestellten zugleich Studenten seien. Zudem werde sich durch eine Privatisierung der Universität ihre Situation erheblich verschlechtern: Sie befürchten die Entlassung der Hälfte der Beschäftigten.

Den Hinweis, ihre eigenen Kinder seien von den Gebühren betroffen, bringen nicht nur Mitarbeiter der STUnam vor, welche die Arbeit weitgehend niedergelegt haben. Auch viele Eltern zeigen sich auf den Demonstrationen der Studierenden in eigenen Blöcken. Solidarisch erklärt sich auch die EZLN. Subcomandante Marcos von der indigenen Aufstandsbewegung sendet regelmäßig Unterstützungsbriefe an die Bewegung der Streikenden, die in der Tageszeitung La Jornada veröffentlicht werden. Darin unterstreicht er, die Studiengebühr dürfe nicht geduldet werden, Bildung sei "das Recht eines jeden Menschen".

Was aber läßt sich die Universitätsleitung einfallen, um die Studenten zur Aufhebung des Streiks zu bewegen? Die Hoffnung auf eine schnelle Ermüdung der Bewegung wurde schnell von aktiven Strategien zur Einschüchterung der Studierenden abgelöst: Für die Organisierung sogenannter "clases extramuros" - improvisierter Unterricht außerhalb des Campus - wurden zahlreiche Räume außerhalb der Universität bereitgestellt, in denen die Dozenten ihren Unterricht fortsetzen sollten. Freilich ging es dabei nicht um die Vermittlung von Inhalten, sondern um die Spaltung von Studierenden und Dozenten in Streikende und Streikbrecher. Viele Akademiker verweigern jedoch die Teilnahme an den außeruniversitären Veranstaltungen oder unterstützen die Streikbewegung aktiv.

Anfang Mai wurde die Gangart härter: Mehrere Aktivisten wurden überfallen, mißhandelt oder entführt. In keinem der Fälle wurden die Schuldigen gefaßt. Für die Sicherheit "der Unam" dagegen hatte der Rektor gesorgt - das im Januar eingeführte Programm "Schutz der Universität" sieht die umfassende Videoüberwachung des Campus durch Ausrüstung von Wachfahrzeugen mit Kameras vor. Zudem patrouillieren 220 neu eingestellte Sicherheitsbeamte auf dem Gelände. Dem Rektor wird vorgeworfen, dieses Programm als Mittel eingesetzt zu haben, um die Streikbewegung auszuspionieren.

Im Juni kam es schließlich zu den ersten und bisher einzigen Treffen zwischen Vertretern der Universitätsleitung und des CGH - erfolglos, denn die Studierenden beharrten auf ihren Forderungen, während Barnés' Kommission auf der Aufhebung des Streiks als Voraussetzung für eine Verhandlung insistierte. Auch die von Barnés angeregte Modifikation der Gebühr, sie sollte zukünftig "freiwillig" gezahlt werden, konnte die Studierenden nicht überzeugen. Für Massimo Modonesi, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Unam, ist diese Reaktion symptomatisch: "Diese Bewegung zeichnet sich durch ein grundlegendes Mißtrauen gegenüber allem aus, was nach Autorität riecht."

Nach gescheiterten Verhandlungen und beigelegtem Dialog schien der Konflikt schließlich zu eskalieren: Anfang August besetzten streikende Studierende und Akademiker die improvisierten Einschreibebüros außerhalb des Universitätscampus - und sahen sich überraschend mit Polizei und Sicherheitskräften konfrontiert. Der Versuch, den neuen Semesterbeginn auf diesem Wege zu verhindern, endete für über hundert Aktivisten in der Zelle; zahlreiche Studierende wurden verletzt, der CGH spricht gar von zwei Toten. Angesichts der gewaltsamen Ausschreitungen brodelt nun die Gerüchteküche: Von polizeilicher Räumung der Uni bis zur Schließung der Institution reichen die Spekulationen.

Letzte Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts scheint nunmehr in dem vor wenigen Tagen veröffentlichtem Kompromißvorschlag einer Reihe von emeritierten Professoren zu liegen - Aufhebung des Streiks gegen die Garantie eines reformgebenden Universitätskongresses binnen 60 Tagen.

Für den CGH ergibt sich hier die Möglichkeit, noch einmal an Terrain zu gewinnen: Der Entwurf der Professoren findet in breiten Teilen der Öffentlichkeit große Zustimmung und wird von zahlreichen Akademikern unterstützt. Akzeptieren die Studierenden, so setzen sie Francisco Barnés de Castro unter erneuten Druck. Damit würde der Konflikt aber auch wieder auf universitäres Terrain beschränkt.