Dummheit des Stolzes

Familiengeheimnisse, die jeder kennt: Robert Altmans "Cookies Fortune"

Nichts ist, wie es sein soll, aber man kann immerhin so tun, als ob: So denkt es sich Camille Dixon (Glenn Close), die cholerische Nichte der lieben Rentnerin Cookie (Patricia Neal). Mit großer Energie scheucht Camille das Ensemble des kleinen Laien-Theaters im Südstaatennest Holly Springs zusammen, damit auch jeder weiß, daß ihre Schwester Cora (Julianna Moore) die begnadeteste Schauspielentdeckung ist, seit, sagen wir, Liz Taylor.

Es wird geprobt bis zum Umfallen, und zwar Oscar Wildes "Salomé". Was Camille nicht glauben kann, ist, daß ihre Schwester nur eine durchgedrehte Zicke ist, die sich mit sich selbst verwechselt und nur noch in Bibelversen daherredet. Wenn Camille gerade mal nicht mit dem Laien-Osterspiel beschäftigt ist, pflegt sie ihre Ressentiments, denn Camille kann nicht verknusen, daß ihre Familie in grauer Vorzeit, irgendwann vor dem Bürgerkrieg, mal reich gewesen sein muß, sie selber aber nichts an den Füßen hat.

Die Familienehre - da kann man schon mal nicht mehr alles auf die Reihe kriegen. Denn auf die Familienehre schwören die Schwestern Cora und Camille, die im Gegensatz zu ihrer Tante finanziell eher bescheiden gestellt sind. Die soziale Ansehen zu verlieren, das wäre Camille eine Katastrophe. Der Haß auf die Tante sitzt daher tief: Die hat ihr Leben lang gefaulenzt und gute Zeiten mit ihrem Mann gehabt, einem Spieler, dem es tatsächlich gelungen ist, mit ein paar glücklich gesetzten Chips einen ansehnlichen Gewinn anzuhäufen, der Cookie ein geruhsames Leben ermöglicht - aber daß die Alte sich nicht viel aus dem Vermögen macht, das ist für diejenigen nicht erträglich, die am anderen armen Ende der Stadt ihr Dasein fristen müssen.

Eines Tages aber scheint es, daß Camille alle Sorgen loswerden könnte: Als sie bei Cookie eine Kristallschüssel ausleihen will, um die es schon oft Krach gab, weil Cookie vom materiellen Besitz weniger hält als von den Erinnerungen an Ehemann Buck, kann die Nichte nur noch den Tod der alten Dame feststellen. Die hatte sich in der fiesen Sippschaft schlichtweg einsam gefühlt und sich ein Loch in den Kopf geschossen ("Bald sind wir wieder zusammen, Buck").

Schande über alle. Das will Camille nicht auf sich sitzen lassen: Daß die alte, aber reiche Schlampe mit dem tollen Anwesen auch noch Selbstmord begeht. Der Abschiedsbrief wird daher weggemampft, mit all der ihr zur Verfügung stehenden Regiegewalt ein Raubmord arrangiert und die Polizei informiert.

Cookie hatte nur zwei Freunde, ihren ergebenen Hausmeister Willis (Charles S. Dutton) und Coras Tochter Emma (Liv Tyler), die nach einem längeren Aufenthalt außerhalb der Stadt wieder nach Holly Springs zurückgekehrt ist. Willis gerät unter Mordverdacht, ausgerechnet sein Angelfreund Lester Boyle (Ned Beatty) muß ihn in seiner Funktion als Stadtpolizist verhaften. So richtig mag natürlich niemand glauben, daß Will seine alte Freundin erschossen hat; da jeder jeden kennt, bleibt die Atmosphäre locker und die Gefängnistür steht weiter offen als erlaubt. Camille und Cora haben derweil unerlaubterweise den Tatort okkupiert, um schon mal den Lebenswandel führen zu können, der ihnen ihrer Meinung nach zusteht.

Den aggressivsten Gegenpart zu den übergeschnappten Schwestern übernimmt allmählich Emma, die den beiden noch nie über den Weg getraut hat. Aus Protest und Freundschaft zu Willis läßt sie sich gleich mit ihm verhaften.

Außerdem läßt sich der Knastaufenthalt für eine heiße Fortsetzungsaffäre mit der Jugendliebe, dem leicht dorftrotteligen Hilfssheriff Jason (Chris O'Donnell), nutzen, und wir ahnen, was als nächstes kommt, wenn die Luft mit einem leichten Stöhnen aus Emmas Lungen entweicht, weil Jason sich mal wieder an sie gekuschelt hat. Während der Dienstzeit! Und mit zwanzig Meter Polizei-Absperrband am Hintern. Wird der smarte Detektiv Otis Tucker (Courtney B. Vance), extra aus der Großstadt gekommen, diese seltsame Geschichte auflösen können, in der jeder über Jahrzehnte Spezialwissen über die anderen angehäuft hat, die zumeist ein bißchen verrückt sind und alle alkoholabhängig?

"Cookies Fortune" ist einer der schönsten, leichtesten und überzeugendsten Filme dieses Sommers. Altman schafft eine entspannt-schwerblütige Atmosphäre wie im Jack-Daniels-Werbespot, in der sich seine Figuren in aller Ruhe entwickeln können. Die Geschichte der Fanatikerin Camille, die alles haßt, was sich lieber einen schönen Tag macht, den Fischen beim Schwimmen zuguckt oder sonstwie den lieben Gott einen guten Mann sein läßt; die ihren kleinbürgerlichen Abstieg mit der Glorifizierung sozialer Konventionen kompensiert, an deren Haltbarkeit nicht einmal der letzte Polizist glaubt.

Der Rest der Personnage hat sich einfach darauf geeinigt, sein ruhiges bequemes Leben mit allerlei Späßchen anzureichern und personifiziert das intellektuelle Elend des ländlichen Hinterwäldlertums, das sich in den Gesetzlichkeiten des letzten Jahrhunderts zu bewegen scheint. Aber wer die Realität nicht sehen will, kann intrigieren und heruminszenieren, wie er will, es nutzt nichts.

Während sich Schwester Cora frühzeitig aus der Gegenwart in ihre Theaterrolle zurückgezogen hat, wartet auf Camille ein viel böseres Ende. Denn die Überspannten und die Wüteriche holt die ausgleichende biblische Gerechtigkeit, "Salomé" wartet schon auf ihre Regisseurin ... Altman: "Die Ironie in der kleinen Südstaaten-Stadt ist, daß einfach jeder deine Geheimnisse kennt, man aber nicht darüber redet. Du lebst in dem Irrglauben, du könntest deine dreckige Wäsche verstecken, während der Nachbar schon dabei ist, sie öffentlich im Fluß zu waschen. Das ist die Dummheit des Stolzes - eine perfekte Oberfläche, die nicht real ist."

Genau! Die Musik (von Eurythmics-Mann Dave Stewart, der zur Hochform aufläuft) ist schön, die Leute, die Bilder auch. Ein Top-Film. Allerdings muß man die zähen ersten 20 Minuten erstmal überstehen - die ziehen sich wie eine tote Katze, die fünf Tage im Mississippi gelegen hat.

"Cookies Fortune - Aufruhr in Holly Springs". USA 1998. R: Robert Altman, D: Glenn Close, Julianne Moore, Charles S. Dutton, Liv Tyler, Chris O'Donnell, Lyle Lovett. Start: 26. August