Eine Frage der Ehre

Entschädigungsforderungen vertriebener Juden erregen in der polnischen Öffentlichkeit Ärger und Abwehr

Polnische Behörden haben ihre eigene Routine entwickelt, wenn es um Entschädigung geht: Seit Jahren werden sie mit Anträgen konfrontiert, endlich zu zahlen - wahlweise an ehemalige polnische Grundbesitzer oder an deutsche "Heimatvertriebene". Die Regierung verweist dann immer auf die noch fehlenden gesetzlichen Bestimmungen und läßt Anträge in den Tiefen der Verwaltung verschwinden.

Doch diesmal wird es so einfach nicht gehen: Anfang August wurde der polnischen Regierung eine neue Forderung zugestellt. Im Namen eines britischen und zehn US-amerikanischer Bürger jüdischer Herkunft fordert die New Yorker Anwaltskanzlei Urbach & Klein vom polnischen Staat Schadenersatz in Höhe von bis zu hundert Milliarden Dollar, da der von den Deutschen während der Besetzung "arisierte" Besitz der Kläger nach dem Zweiten Weltkrieg durch Enteignungen an den polnischen Staat übergegangen sei. Polen habe zudem Entschädigung für die entgangene Nutzung in den letzten 50 Jahren zu leisten. Darüber hinaus habe sich der Staat auch am Eigentum der Juden bereichert, die wegen der Nachkriegspogrome von Kielce das Land verlassen hatten.

Die polnischen Enteignungen ab 1945 hatten sich vor allem gegen Deutsche gerichtet. Betroffen waren auch Polen mit Privatbesitz an Produktionsmitteln oder größerem Grundbesitz. Nach den Verstaatlichungsgesetzen vom Oktober 1945 und Januar 1946 wurden ausnahmslos alle deutschen Betriebe und alle anderen Industriebetriebe mit mehr als 50 Arbeitern pro Schicht übernommen.

In der nun von der New Yorker Kanzlei vorgelegten Klagebegründung heißt es: "Die Republik Polen hat während der letzten 54 Jahre einen Plan realisiert, der die gewaltsame Vertreibung der Juden aus Polen bis zu ihrer Ausrottung durch Gewalt, Folter und Tod zum Inhalt hatte." Bis zum heutigen Tag ziehe Polen "aus Haß und Habsucht" Gewinn aus dem Eigentum der Opfer des Holocaust.

Die Anwälte weisen Polen auch eine Mitverantwortung für Auschwitz und andere Todeslager zu. Deutschland habe die Lager in Polen wegen des dort vorherrschenden Antisemitismus eingerichtet. Sie werfen dem polnischen Staat vor, den "Nazi-Plan der rassischen und ethnischen Säuberungen" fortgeführt zu haben.

In diesen Vorwürfen zeige sich die mangelnde Empathie der Juden, schrieb die polnische Wochenzeitung Polityka. Schließlich richten sie sich gegen ein Land, das selbst ein Opfer der Nazi-Verbrechen sei. In der Tat handelt es sich um die erste Klage jüdischer Überlebender oder Angehöriger der Opfer, die sich nicht gegen den Rechtsnachfolger des Dritten Reiches oder dessen unmittelbare Helfershelfer, sondern gegen ein von den Deutschen überfallenes Land richtet. Damit und mit den Argumenten der Klagebegründung legten die Kläger eine Gleichsetzung des deutschen Vernichtungsprozesses mit antisemitischen Pogromen und Ausweisungen in Polen nahe.

Gegen diese Gleichsetzung mit dem Dritten Reich protestierte umgehend Adam Michnik, ehemaliger Solidarnosc-Aktivist und heutiger Chefredakteur der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza. In seinem Leitartikel unter dem Titel "Lüge im Schatten der Shoah" warf er den Autoren der Klage eine "extrem antipolnische Einstellung" vor. Dies sei ein "unschätzbares Geschenk für die Antisemiten in Polen und die von Haß gegenüber Polen beherrschten Juden."

Michnik, der selbst viele Angehörige bei der Shoah verlor, räumte allerdings ein, daß Juden in Polen Unrecht erlitten hätten und nannte das Pogrom von Kielce sowie die antisemitische Hetzkampagne des Jahres 1968 eine "polnische Schande". Dennoch habe nie eine polnische Regierung - auch nicht die von ihm bekämpfte kommunistische - den Plan der Nazis, Polen "judenrein" zu machen, fortgesetzt. Wer dies behaupte, sei ein "gewissenloser Schurke". Wer Polen beleidige wie der Rechtsanwalt Mel Urbach, so Michnik, sei als Verhandlungspartner inakzeptabel: "In diesem Ton sollte die polnische Regierung niemals und mit niemanden reden".

Polens liberal-konservativer Ministerpräsident Jerzy Buzek versuchte zu beruhigen: Das Gesuch sei eventuell falsch formuliert und alle - auch die jüdischen - Forderungen würden nach dem Reprivatisierungsgesetz behandelt. Eine Sonderregelung bei der Vermögensrückgabe für aus Polen stammende Juden schloß Buzek aus.

Vize-Finanzminister Krzysztof Laszkowicz zeigte sich aufgeregter: Kurzerhand sprach er US-Gerichten die Kompetenz und Zuständigkeit für Reprivatisierungsmaßnahmen in Polen ab. Zudem erinnerte Laszkowicz an einen Vertrag von 1960, auf dessen Basis US-Bürger, deren Eigentum verstaatlicht worden war, mit 40 Millionen Dollar entschädigt würden.

Sollte das Verfahren aus diesen Gründen abgelehnt werden, könnten die Rechtsanwälte allerdings Klage gegen die derzeitigen Besitzer der ehemals jüdischen Immobilien erheben. Daher wird sich die polnische Regierung vermutlich mit der Bitte um Vermittlung an die US-Regierung wenden.

Denn eine Zulassung der Klage könnte zum Präzedenzfall werden und die polnische Regierung zu einem neuen Umgang mit den alten Anfragen zwingen. Schon jetzt haben 44 Mitglieder der Vereinigung der polnischen Immobilienbesitzer den Wunsch geäußert, sich der Klage der US-Bürger jüdischer Herkunft gegen den polnischen Staat anzuschließen. Auch sie würden seit zehn Jahren vergeblich auf die Rückgabe ihres Besitzes warten.

Es wäre dann nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die ersten Deutschen mitziehen und zusammen mit Juden gegen Polen klagen. Helga Hirsch, Polen-Korrespondentin für die deutsche Tageszeitung Die Welt, die gerne mal sentimental die schlesische Seele baumeln läßt, deutete in einem Bericht schon die überraschend neue Koalitionsmöglichkeit an und kommentierte Michniks Zurückweisung forsch: "Für wahre Polen ist die Ehre offensichtlich immer noch wichtiger als das Recht."

Daß nach der Schweiz, die tatsächlich zu einem finanziellen Gewinner der Shoah wurde, nun ein weiteres Land auf die Anklagebank kommt, läßt riesige Steine von deutschen Herzen fallen. Ein Reprivatisierungsgesetz wird von deutschen "Vertriebenen" schon lange gefordert. Ob sich Polen dazu entschließt, vierzig Jahre der Volksdemokratie einfach zu annullieren und damaliges Recht zu Unrecht zu erklären, ist noch nicht entschieden - und wird wohl auch nicht allein in Polen entschieden werden. Der Westanschluß läuft über Berlin.