Grenzen auf, Grenzen weg

Aktionen, Diskussionen und viele Fragen: Eine Einschätzung des Antirassistischen Camps bei Zittau
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"Lückendorf - Rassistennest - Wir schicken dir die Beulenpest!", ruft jemand durchs Megaphon. Etwa 70 Leute spazieren durch die 550-Seelen-Gemeinde Lückendorf im Zittauer Gebirge, verteilen eine Zeitung der Kampagne "kein mensch ist illegal," schmükken Laternen, Häuser, Autos mit Aufklebern, die sich gegen die Denunziation von Flüchtlingen wenden.

Da platzt einem der Demonstranten wegen der wenig populistischen Lautsprecherdurchsagen der Kragen, er ruft: "Bürger, laßt das Glotzen sein, kommt herunter, reiht euch ein!" Kein besonderer, aber ein exemplarischer Vorgang für eine der Diskussionen während des Antirassistischen Grenzcamps Mitte August in Zittau.

Das Verhältnis zur Bevölkerung muß Thema sein, wenn man aus allen Teilen Deutschlands in eine rechts dominierte Region fährt, um dort - ja, was eigentlich? Die Menschen dort abholen, wo sie sind? Das wollte wohl niemand der rund 1 300 TeilnehmerInnen des Camps. Sich auf rassistische Argumentationsweisen einzulassen, kam ebensowenig in Frage. Soweit herrschte Konsens. Aber dann? Aufklärung? Linke Gegenkultur? Alternativen aufzeigen? Einfach provozieren?

Als Sprachregelung einigte man sich auf die Formulierung: "Die Wenigen ansprechen, die anders denken, die sich solidarisch gegenüber Flüchtlingen verhalten." Nicht die Rassisten zu Nichtrassisten machen, sondern die Nichtrassisten ermutigen, Courage zu zeigen, vielleicht sogar Fluchthilfe zu leisten. Doch auch wenn dies die Botschaft des Camps war, Konsens unter den TeilnehmerInnen war es nicht. Wie auch? Eine buntere Zusammensetzung als die des Camps findet man selten bei einer politischen Aktion.

Immerhin blieben MLer, StalinistInnen und FDJler dieses Jahr der Aktionswoche fern - die AA/BO ebenfalls. Eine Bündnisveranstaltung war das Grenzcamp nicht. Dafür war die volle Bandbreite des antiautoritären Spektrums vertreten: AnarchistInnen, Punks, Antideutsche, Hippies, Alt-Autonome, junge Antifas, Ex-Antiimps, Wohlfahrtsausschüsse - viele ganz Junge, im ersten Jahr ihrer Politisierung, und nicht wenige alte KämpferInnen, die seit 20 Jahren dabei sind. Keine günstige Basis für einen politischen Konsens oder eine gleichberechtigte Diskussion über Widersprüche.

Dabei haben es die LückendorferInnen den angereisten AntirassistInnen nicht schwer gemacht. Nur eine Handvoll DorfbewohnerInnen verhielt sich halbwegs fair, der Rest tat - erfolgreich - alles dafür, das Camp nicht im eigenen Nest stattfinden zu lassen. Das ging so weit, daß der nicht gerade linksradikale Verpächter der Wiese im Dorf nicht mehr gegrüßt wurde. Wer bitte schön soll denn da noch "runterkommen", um sich einzureihen?

Natürlich konnte das Camp nur Fragen aufwerfen. Offen bleibt, was eine Linke tun soll, die sich als nicht autoritär begreift, sich also auch nicht gegen die Masse der Menschen gewaltsam durchsetzen will, aber auch nicht mehr glaubt, sie überzeugen zu können und dazu größtenteils auch gar keine Lust hat, beziehungsweise die Bevölkerung inzwischen eher als politischen Gegner ansieht.

Es gab aber noch andere Debatten, die während der Woche in Zittau eine Rolle spielten: Etwa der Streit um die Parole "Keine Grenze ist für immer". Verschiedene TeilnehmerInnen kritisierten diesen an der deutschen Ostgrenze mehr als zweideutigen Spruch scharf: Diese Parole sei auch von Vertriebenenverbänden benutzt worden. In einer halbwegs sachlichen Plenumsdebatte teilte die Mehrheit diese Kritik.

Eine Aktion wurde anschließend umgeplant. War zunächst zur Verwirrung und Störung des BGS vorgesehen, eine nächtliche "Schnitzeljagd" an der Grenze zu veranstalten, bei der es darum gehen sollte, nach 22 Uhr über die nach dieser Uhrzeit geschlossene Grüne Grenze zu gelangen - also auch von Deutschland nach Tschechien, wurde dieser Plan schließlich revidiert. Die Aktion fand nur Richtung BRD statt.

Dennoch wurde immer wieder während der neun Tage klar, daß das Camp nicht für alle ein Antirassistisches Grenzcamp, sondern für viele ein Anti-Grenzcamp war. Da wurde von der Utopie einer Welt ohne Grenzen und Staaten phantasiert, von Grenzen geredet, die einem selbst gesetzt würden und die es zu überschreiten gelte. Alles schön und gut, aber eben Opfer-Diskurse. Die Ausrichtung des Grenzcamps im letzten Jahr war eindeutiger: Gegen die rassistische Flüchtlingspolitik der BRD, gegen das BGS-Regime in der Grenzregion, gegen rassistische und denunziationswillige BürgerInnen und gegen organisierte Nazis. Die eigenen Privilegien wurden erkannt.

Dafür nahmen dieses Jahr viel mehr Menschen nichtdeutscher Herkunft an dem Camp teil - vor allem dank der Wagenplatzhippies, die eine internationalere Kultur pflegen als die meist ausschließlich deutschen Antideutschen oder Autonomen. Trotzdem waren es nicht zuletzt die Hippies, denen es wohl mehr um die eigene Befreiung ging. Ein Aktionsvorschlag aus dieser Gruppe: Sich mit Schlamm beschmieren und durch Zittau laufen. Das wäre doch megageil.

Klar paßt in so ein utopisch-anarchistisches Weltbild nicht, daß es nach der Wende notwendig war, die deutsche Ostgrenze entlang Oder und Neiße anzuerkennen. Schließlich war es jahrelang antirassistischer, linksradikaler Konsens gewesen, "Offene Grenzen" zu fordern. Die Forderung "Keine Grenzen" ist ein Bruch damit.

Einig dagegen war man sich auch diesmal, das deutsche Grenzregime anzugreifen. Besonders schön: Die mehrstündige Blockade einer BGS-Kaserne und eine Aktion, bei der mit "verstecktem Theater" die Klosterruine in Oybin in eine Festung Europa verwandelt wurde. Auch die trotz Verbot durchgesetzte Demo zum Flüchtlingsheim Zittau (Jungle World, Nr. 34/99), die Kontaktaufnahme mit den Flüchtlingen dort und die Konstituierung eines aus Deutschen und Flüchtlingen bestehenden Komitees für die dezentrale Unterbringung der AsylbewerberInnen waren ein Erfolg.

Eine weitere Diskussion, die eher in kleinen Kreisen geführt wurde: Welchen Sinn macht es, die EU-Außengrenze als Wohlstandsgrenze zu charakterisieren? Eine etwas surrealistische Aktion brachte diese Frage aufs Tapet: Etwa 50 TeilnehmerInnen des Camps besuchten eine Einfamilienhaussiedlung und ließen sich in den Vorgärten nieder, packten Decken aus, picknickten, spielten Federball, hörten Musik. An die erzürnten Hausbesitzer wurden wirre Flugblätter verteilt, in denen von "virtuellen RaumschreiterInnen" die Rede war, deren Mission es sei, eben hier Räume zu durchmessen. Grenzen wurden als Einzirkelung des Eigentums, als Schutzwall der Habenden gegenüber den Nichthabenden dargestellt. Insofern ähnele die Wohlstandsgrenze Gartenzaun der EU-Außengrenze.

Natürlich ist die Angst vor dem Verlust des Eigentums ein wesentlicher Bestandteil rassistischer Argumentation, und natürlich ist die Ausländer-Raus-Politik auch eine zur Absicherung des eigenen Wohlstands. Trotzdem ist Rassismus mehr. In Diskussionen mit der Zittauer Bevölkerung war die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder vor Diebstählen in der Laubenkolonie nur ein Argument unter anderen. Gerade die Furcht vor "Überfremdung", vor den "anderen Kulturen" wurde immer wieder vorgebracht.

Am Ende scheint die soziale Angst auch eine Ausrede der Rassisten für ihren Rassismus zu sein. Die Argumentation kann schnell in eine Debatte wie die um Gollwitz münden, als ostdeutsche Parteikommunisten die rassistischen Ausbrüche der Gollwitzer Dorfbevölkerung relativierten: Das seien doch nur Opfer der sozialen Krise. Deshalb ist es wichtig, die rassistische Bevölkerung nicht als Krisenopfer und potentiellen Bündnispartner, sondern vor allem als Täter zu bezeichnen.

Daß all diese Diskussionen nicht wirklich ausgetragen, zum größten Teil nur angerissen wurden, kann man als Manko des Camps bezeichnen. Es läßt sich aber auch anders sehen: Viele AktivistInnen wurden erstmals mit diesen Fragen konfrontiert, die Verbindung mit Aktionen machte die Diskussion konkret, es kam zu dauerhaften Initiativen. Zudem hat in der Region Zittau das Camp wochenlang die Schlagzeilen beherrscht, es hat den BGS und die Nazis gestört, ist den BürgerInnen auf die Pelle gerückt - was will man mehr?