Solidarnosc lernt Monopoly

Erst wurden die Werften im Norden Polens umstrukturiert, nun kommen die Bergwerke im Süden dran

Nach alter Tradition sollten die Arbeiter die Vorhut auf dem Weg zur Freiheit bilden. 1980 besannen sich die Arbeiter Polens ihrer Vorsehung und sägten an den Stühlen ihrer Unterdrücker. Eine einzige Entlassung brachte das Faß zum Überlaufen. Anna Walentynowicz, Kranführerin auf der Danziger Leninwerft, sollte wegen rebellischer Umtriebe ihre Sachen packen, woraufhin gleich alle 17 000 Danziger Schiffbauer wegblieben. Das war der Beginn des heißen Sommers 1980.

Wie im Lehrbuch bildeten die Schiffbauer der Danziger Leninwerft im Norden und die Katowicer Bergleute im Süden Polens den Kern der schlagkräftigsten Gewerkschaftsbewegung Europas, sie machten den Nominalkommunisten in Warschau das Regieren schwer, bis sie sie zu dem "historischen Kompromiß" von 1989 bewegt hatten. Danach begann der steinige Weg zum kapitalistischen Himmelreich. Nicht unähnlich ihren Vorgängern setzen auch die neuen Herrscher auf Durchhalteparolen: Eine unvermeidliche Übergangszeit der Entbehrungen müsse erst durchschritten werden, um zum Paradies zu gelangen, man sei aber auf dem richtigen Weg.

Dieser fällt für die Beschäftigten und ihre Familien im Süden und Norden jedoch recht unterschiedlich aus. Heute sind in Danzig noch 2 500 Werftarbeiter tätig. Die anderen finden, soweit sie jung, dynamisch und flexibel genug sind, eine halbe Stunde mit der S-Bahn entfernt Arbeit. Im September letzten Jahres hat die aufstrebende Stocznia Gdynia S.A. (Gdingener Werft AG) den altehrwürdigen Nachbarn in Danzig geschluckt.

Die zur Stocznia Gdanska (Danziger Werft) umbenannte Leninwerft hatte 1996 Konkurs anmelden müssen. Die Solidarnosc-Aktivisten versuchten zwar alles, um ihre Einkommensquelle zu retten, doch kamen sie gegen die durch den Staat exekutierte Kapitallogik nicht an. Danzig setzte inzwischen auf neue Technologien, Handel, Banken und Dienstleistungen, und will weg vom Image der schmuddeligen Hafenstadt.

Der Kaufpreis betrug gerade mal 115 Millionen Zloty (rund 27 Millionen Euro) - fast genau der Jahresgewinn der Werft in Gdynia, die 1997 neun Schiffe im Wert von knapp einer Milliarde Zloty verkauft hatte. Gdynia gehört mit Szczecin zu der mit Abstand größten Werft in Europa und ist weltweit der siebtgrößte Hersteller für Containerschiffe.

In Polen sind insgesamt 31 000 Menschen im Schiffbau beschäftigt, nur die USA, Südkorea und Japan haben mehr Werftarbeiter. Während der Westen auf postmodernes Netzwerk, Diversifizierung und Outsourcing setzt, hält man in Polen - wie in Ost-Asien - an der klassischen Strategie fest: groß, viel, billig. Ihre Konkurrenzfähigkeit erhalten die Ost-Riesen weniger durch Rationalisierung - der landesweite Stellenabbau war verglichen mit Deutschland unterdurchschnittlich -, sondern durch im Vergleich zu Westeuropa paradiesisch niedrige Lohnkosten.

Ein Gdingener Schiffbauer kostet im Schnitt 1,76 Euro pro Stunde, sein Kollege im dänischen Odense ist rund zehnmal teurer. Der polnische Werftarbeiter schafft rund 56 Stunden bis zum Wochenende und schrubbt bei rund 2 300 Stunden Jahresarbeitszeit 144 Überstunden - alles europäische Spitzenwerte.

Der Konzern mit den frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen hatte im April auch in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt, als er sich für die Übernahme einer Werft nahe der polnischen Grenze interessierte, die derzeit noch dem britisch-norwegischen Kvaerner-Konzern gehört. Die Geschäftsführung mit Sitz in Warnemünde sah "überhaupt kein Thema", und auch der deutsche Betriebsrat war nicht sonderlich erfreut.

Als in den legendären August-Tagen 1980 den Werftarbeitern im Norden langsam die Luft auszugehen drohte, ohne daß die Forderung nach Zulassung der unabhängigen Gewerkschaft durchgesetzt war, sprangen ihnen die südpolnischen Bergarbeiter zur Seite: 300 000 Kumpel traten, für die Regierung völlig überraschend, in den Ausstand. Die Bergbaugebiete im Süden Polens galten bis dahin als "streiksicher"; höhere Löhne, eigenes Gesundheitswesen, Betriebswohnungen, Erholungs- und Sporteinrichtungen sowie kostenlose Urlaubsplätze hatte die Region in den großen Streikbewegungen der Jahre 1956, 1970, 1976 bei der Stange gehalten. Der erste Bergarbeiterstreik seit Jahrzehnten brachte die Regierung in entscheidende Bedrängnis. Tage später erkannte sie die Gewerkschaft Solidarnosc (S) an.

Durch die Paradoxie, daß sich die Opposition gegen einen "Arbeiter- und Bauernstaat" als Gewerkschaft der Arbeiter und Bauern (neben der Solidarnosc entstand parallel eine Land-Solidarnosc) artikulierte, entwickelte sich die in Europa einmalige Situation, daß auf beiden Seiten des bürgerlichen Spektrums starke Arbeitervertretungen bestehen. Sie gehören jeweils den beiden größten, gegeneinander gerichteten politischen Blöcken an. Solidarnosc spielt eine führende Rolle bei der regierenden Wahlaktion AWS, die Konkurrenz von der OPZZ ist dem oppositionellen Linksbündnis SLD untergeordnet. Während die S eher die unteren Lohngruppen repräsentiert, gilt die OPZZ tendenziell als Vertreter der mittleren und höheren.

Während die Nordlichter den großen Gong schon hinter sich haben und in marktförmiger Normalität ihr Dasein fristen, steht er für die Bergleute im Süden noch an. Doch im Katowicer Revier sind die Gewerkschaften noch eine Macht. Von 1990 bis 1995 organisierten sie zehn Großstreiks, sieben Demonstrationen vor dem Sejm in Warschau, Mahnwachen vor den zuständigen Ministerien, sie besetzten die staatliche Steinkohle-Agentur und brachten es auf 80 Warnstreiks in den Gruben.

1994 schlugen sie eine Lohnerhöhung von 48 Prozent raus - 16 Prozent mehr als die damalige Inflationsrate und trotz der nach Weltmarktmaßstab regional katastrophalen Wirtschaftssituation. 240 000 Beschäftigte verdingen sich in den Schächten, weitere 80 000 in der Metall- und Stahlproduktion, zusammen mit den Angehörigen sind es rund 1,5 Millionen Menschen, die direkt oder indirekt von der Kohle abhängig sind. Die Woiwodschaft Katowice erwirtschaftet immer noch rund 30 Prozent des polnischen Staatshaushalts in einem riesigen Freilichtmuseum für prämoderne Industriekultur.

Ginge es nach der Weltbank, müßten drei von vier Gruben schließen, die absolute Steinkohleförderung würde halbiert, von der Belegschaft könnten etwa ein Drittel noch gebraucht werden. Schon 1989 wurde das bekannte Transformationsprogramm der Chicago Boys von dem polnischen Parade-Neoliberalen Leszek Balcerowicz in die Wege geleitet: Einbindung in den Weltmarkt, zerkleinern, privatisieren, Subventionen streichen, "Wettbewerbsgeist und Innovationsfähigkeit" fördern. 1991 sank die Produktion um ein Drittel, die Strompreise wurden zur Inflationsbekämpfung gedrückt, die Schulden stiegen, aber jede einzelne Grube hatte nun einen eigenen Namen.

Frisches Kapital für die dringende Modernisierung kam trotzdem nicht in die Kassen. Das Ausland interessiert sich nicht für Fässer ohne Böden, inländisches Kapital ist in dieser Größenordnung noch gar nicht akkumuliert. Die Subventionen heißen seitdem "Kredite" und werden von den ohnehin bankrotten Kommunen "gedeckt".

1993 wurde die Strategie geändert. Die Selbständigkeit der Gruben galt nun als grundfalsch. Es wurden sechs Holding AGs über die insgesamt 55 Gruben gesetzt. Den Bergleuten wurden hohe Ablösesummen geboten, um endlich mit dem Arbeiten aufzuhören.

Tatsächlich reduzierte sich die Zahl der Beschäftigten innerhalb von zehn Jahren, aber es kam zu keinen Massenentlassungen wie in Danzig. Bisher haben die Bergarbeiter und die Gewerkschaften ihre Arbeitsplätze und die immer noch relativ hohen Löhne verteidigt. Damit stehen sie dem wichtigsten Punkt der Umstrukturierungsprogramme im Weg: Die Löhne machen mit allen Zuschlägen immer noch mehr als die Hälfte der Produktionskosten aus.

Solange aber das variable Kapital nicht gesenkt wird, werden keine Profite erwirtschaftet. Was die Kumpel im Zweifelsfall erwartet, können sie im 150 Kilometer westlich gelegenen Walbrzych begutachten: Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei 25 Prozent, in der Stadt herrscht Totenstille. Hier wurden Anfang der neunziger Jahre die als unrentabel eingestuften Gruben dichtgemacht.