Strasbourg ist weit

Andere Grenzen, andere Einbürgerungsgesetze: Viele Flüchtlinge profitieren von dem neuen italienischen Staatsbürgerschaftsrecht

Es sind zwar jedes Jahr die gleichen Szenen, und doch variieren jedes Mal die Akteure: In diesem Sommer sind es hauptsächlich Roma aus dem Kosovo, die per Schiff nach Italien zu fliehen versuchen. Mehrere Tausend Roma sollen italienische Behörden seit dem Ende des Kosovo-Krieges gezählt haben; sie alle erwartet in Italien zuerst ein Sammellager und dann, wenn sie einen Antrag stellen und ein bißchen Glück haben, vielleicht sogar die italienische Staatsbürgerschaft.

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht: Da sich Tausende von Kilometer Küste nicht so einfach sichern lassen wie die deutsche Grenze nach Polen oder Tschechien, hat sich in Italien in den vergangenen Jahren eine im Vergleich zu Deutschland gänzlich andere Flüchtlings- und Einbürgerungspolitik entwickelt. Die im Februar von der rot-rosa-grünen Regierung Italiens angekündigte Legalisierung von mehr als 250 000 Migranten ist Ausdruck davon.

Zwar hat die von Innenministerin Rosa Russo-Jervolino seinerzeit präsentierte Gesetzesvorlage noch immer nicht alle nötigen politischen und juristischen Institutionen passiert, doch ist zur Zeit nicht zu erwarten, daß das Gesetz scheitern wird. Im Gegenteil ist der von der italienischen Rechten angekündigte Widerstand weitgehend ausgeblieben. Außer einigen Petitionen und wüsten Erklärungen auf Parteitagen und in den Medien haben sich weder die rechtskonservative Forza Italia noch die neofaschistische Alleanza Nazionale (AN) oder die separatistische Lega Nord zu Gegenaktionen aufraffen können.

Nun sollen also, vermutlich bis zum Herbst dieses Jahres, 250 000 Menschen auf einen Schlag die italienische Staatsbürgerschaft erhalten. Die neuen Staatsbürger können dabei selbst entscheiden, ob sie ihren bisherigen Paß behalten wollen oder nicht. Von der Regelung betroffen sind mehr als 200 000 Menschen, die bis zum Ende des vergangenen Jahres einen Aufnahmeantrag in Italien gestellt haben. Die weiteren Kriterien könnten auch von einem deutschen Innenminister stammen: Nachgewiesen werden muß ein ständiger Wohnsitz, ein fester Arbeitsplatz (oder eine verbindliche Arbeitsplatzzusage) sowie ein leeres Strafregister.

Bis das Gesetz verabschiedet ist, erhalten alle Antragsteller eine Daueraufenthaltserlaubnis sowie die Möglichkeit, einer Sozialversicherung und einer Krankenkasse beizutreten. Bei der Vergabe von Sozialwohnungen sollen die Staatsbürger im Wartestand gleichberechtigt berücksichtigt werden. Sollte der entsprechende Antrag abgelehnt werden, gilt der Grundsatz, daß Flüchtlinge nicht gegen ihren Willen dahin abgeschoben werden, wo sie hergekommen sind. Asylsuchende werden zur Grenze oder in einen Staat ihrer Wahl gebracht, sofern dieser ihn oder sie aufzunehmen bereit ist. EU-Staaten scheiden somit weitgehend aus.

Da sich in der Regel kein Staat findet, der freiwillig Flüchtlinge aufnimmt, dürfen die meisten in Italien bleiben. Schwangere Frauen, Jugendliche und Kinder wurden in den letzten Jahren ohnehin nur in Ausnahmefällen abgeschoben. Wer von den Carabinieri ohne gültige Papiere angetroffen wird, kann bis zu 48 Stunden inhaftiert werden, danach werden die Betroffenen meist wieder freigelassen und erhalten einen Landesverweis, die Person wird zum Verlassen des Landes aufgefordert. Kontrolliert wird die Ausreise nicht. Auch die Zusammenarbeit mit dem Schengen-Kontroll-System (SIS) erfolgt nur begrenzt. Die Regel ist zur Zeit, daß keine Fingerabdrücke abgenommen werden oder, wenn doch, diese nicht nach Strasbourg weitergeleitet werden.

Abgeschoben wurden in den letzten beiden Jahren im Durchschnitt vier von zehn Flüchtlingen, meistens handelt es sich um Menschen, die unmittelbar nach ihrer Ankunft in Italien aufgegriffen wurden. Die Frist von 14 Tagen, in denen früher Flüchtlinge Italien wieder zu verlassen hatten, ist im letzten Jahr mit einer juristischen Konstruktion teilweise außer Kraft gesetzt worden: Unter Fluchtverdacht stehende Personen oder solche, die eventuell gegen die Ausweisung prozessieren wollen, werden in Abschiebelagern "festgesetzt". Ihr Schicksal unterliegt meist dem politischen Kalkül der Regierenden.

So hatten im vergangenen Jahr - im Vorfeld von diversen Abschiebe-Abkommen mit den Maghreb-Staaten - Tunesier, Marokkaner und Algerier in Italien schlechte Karten. Den Regierungen in Tunis, Rabat und Algier wurde im Sommer des Jahres gegen reichlich Bargeld, allerlei Schiffchen für die Küstenwache und noch mehr Überwachungsgerät die Zusicherung abgekauft, künftig besser dafür zu sorgen, daß ihre Leute das Land nicht mehr in Richtung Italien verlassen können.

Kurden hingegen waren 1998 in Italien ziemlich angesagt: "Wir werden allen Kurden, die darum bitten, politisches Asyl geben", ermutigte der damalige Innenminister Giorgio Napolitano im Januar 1998 Kurden, ihren Asylantrag in Italien zu stellen. Selbst die rechte Opposition zog einhellig mit. In diesem Jahr waren es bis zum Ende des Kosovo-Krieges in der Mehrzahl Kosovo-Albaner, die nach Italien flohen und dort in Miltärstützpunkten, Sammellagern und bei Familien untergebracht wurden. Seit der Krieg beendet ist, folgen die Roma aus dem Kosovo, die von der UCK und ihren früheren Nachbarn verfolgt werden. Ob auch sie von der zur Zeit laufende Gesetzesinitiative des italienischen Innenministeriums zur besseren Einbürgerung profitieren können, ist bislang noch offen.

Die Initiative bildet den vorläufigen und konsequenten Abschluß der italienischen Flüchtlingspolitik der neunziger Jahre. Viele Migranten, die zuvor nach dem seit 1991 gültigen Legge Martelli oft widersprüchlichen Regelungen und willkürlichen Auslegungen unterworfen waren, wurden bereits im vergangenen Jahr durch ein neues Gesetz rechtlich und sozial besser abgesichert: Das Gesetz über die "Regelung der Einwanderung und die Lebensbedingungen des Ausländers" trat im März in Kraft und wirkte bis zum Ende des Jahres 1998 als juristische Grundlage zur Legalisierung von mehreren Hunderttausend Clandestini (übersetzt etwa: die im Geheimen, Verborgenen leben).

Durch insgesamt drei Legalisierungsakte haben in den vergangenen acht Jahren mehr als 750 000 Clandestini in Italien einen legalen Status erhalten, etwa 90 Prozent aller eingereichten Anträge wurden akzeptiert. Die Motive der verschiedenen italienischen Regierungen in dieser Zeit sind different: Eine Zeitlang warnten Nationalökonomen, Industrie und Handwerkskammern vor einem Aussterben des italienischen Südens (Mezzogiorno) und wiesen darauf hin, daß hier dringend Arbeitskräfte in der Landwirtschaft benötigt würden.

Diesen Nützlichkeitskriterien trägt auch der Gesetzesvorschlag Jervolinos Rechnung: Pro Jahr sollen künftig zwischen 38 000 und 50 000 Menschen - je nach qualifiziertem Arbeitskräftebedarf - durch ein Einwanderungsgesetz legal nach Italien kommen dürfen. Als weiteren Grund aller italienischer Regierungen der letzten Jahre läßt sich der Kampf gegen "die Schattenwirtschaft in Italien", wie es das Sozialforschungsinstitut Censis erst im April wieder formulierte, angeben. Von einer Kontrolle der Einwanderung verspricht sich der italienische Staat eine spürbare Eingrenzung der sogenannten illegalen Beschäftigung.

Wo Menschen legalisiert werden - so rechnet man in Rom -, werden auch Arbeitsplätze legalisiert, Steuerausfälle von Billionen Lire sollen in Steuereinnahmen von Billiarden Lire verwandelt werden. Dabei können die Clandestini nach Kräften mithelfen: Seit dem vergangenen Jahr wird Denunziation im italienischen Einwanderungsrecht belohnt: Legalisiert wird ohne jegliche Prüfung, wer illegal arbeitet und seinen Arbeitgeber den Behörden nennt. Auch Schlepper und Zuhälter sollen so besser verfolgt werden können.

Über Migration aus anderen Staaten wird in Italien verstärkt erst seit Ende der achtziger Jahre diskutiert, zuvor stand die inneritalienische Migration vom ökonomisch und soziostrukturell marginalisierten Mezzogiorno in den industrialisierten Norden im Vordergrund. Für die rechte und separatistische Lega Nord, die ihre politische Basis zwischen Florenz und Verona hat, ist das bis heute so geblieben: Sie vertritt programmatisch einen Wohlstandsrassismus und unterscheidet kaum zwischen Migranten aus dem Mezzogiorno oder Marokko, zwischen "Wirtschaftsflüchtlingen" aus Taranto oder Tunis.