Vergessen durch Erinnern

Ten Years After - Die realsozialistischen Länder haben ihre Kapitulation vor den Sachzwängen des globalisierten Kapitalismus selbst organisiert.

Die moderne Meinungsindustrie hat ein ausgesprochenes Faible für runde Jahrestage entwickelt. Ob 350 Jahre Westfälischer Frieden oder Goethe-Jahr, ob die D-Mark 50. Geburtstag feiert oder die Nato, ein Anlaß zum Blick zurück bietet sich allzeit und mit ihm die Möglichkeit, neben der Abwicklung des laufenden Tagesgeschäfts, aus aktuellem Anlaß auch noch den Zweitartikel "Tage, die die Welt veränderten" zu verhökern.

Es versteht sich von selber, daß diese periodischen Rückschauen für gewöhnlich mit verstärkter Ideologieproduktion einhergehen. Jubiläum reimt sich allemal eher auf Jubilieren denn auf kritische historische Reflexion.

Der Sinn fürs Apologetische bewährt sich vor allem bei historischen Erschütterungen, die in der Gegenwart noch unmittelbar nachwirken. Wo das Vergangene noch nicht vergangen ist, da verschmilzt das offizielle Sich-Erinnern fast schon zwangsläufig mit Geschichtsklitterung und Legendenbildung.

Die bundesdeutsche Öffentlichkeit hat denn auch nicht den geringsten Grund, sich in dieser Hinsicht etwa über die Verrücktheit des serbischen Nationalismus zu mokieren. So grotesk es auch ist, daß das 1989 konstruierte Gedenken an ein 600 Jahre altes Scharmützel auf dem Amselfeld den Ausgangspunkt für das Coming-out des postjugoslawischen Großserbentums bildete, die Gründungslegenden des hiesigen demokratischen Gemeinwesens stehen dem in Wirklichkeitsferne, Absonderlichkeit und Definitionsmächtigkeit in keiner Weise nach.

Die Mythen der Deutschen

Das gilt natürlich in erster Linie für den Urmythos der Bonner Republik, den Mythos von der "Stunde Null". Während andere Nationen in phantastischen Erinnerungen an historische Ereignisse schwelgen, die so nie stattgefunden haben, gründet die Bundesrepublik ideologisch auf einen zur geschichtlichen Tatsache umgelogenen Akt kollektiver Amnesie.

Die alte Bundesrepublik hat sich stets geweigert, sich in irgendeiner Hinsicht als das zu verstehen, was sie ökonomisch, sozial und politisch nun einmal ist: die Fortsetzung des nationalsozialistischen Modernisierungsregimes mit anderen Mitteln. Gerade weil die Kontinuität (nicht nur in Sachen Personnage) mit Händen zu greifen ist, hat sie für sich etwas reklamiert, was es in der Geschichte, selbst in Revolutionen, prinzipiell nicht geben kann. Sie hat ihre Legitimation daraus gezogen, sich als Staat gewordener totaler, auf wenige Monate zusammengezogener Bruch mit einer "unseligen Vergangenheit" zu begreifen, als das Ergebnis einer plötzlichen Läuterung, die durch ein Wunder über Nacht den alten Adam ausgelöscht hat.

Aber auch der Ergänzungsmythos, der den Übergang zur "Berliner Republik" kennzeichnet und zu einem wesentlichen Bestandteil der neuen gesamtdeutschen Weltdeutung geworden ist, hat es in sich. Mit der Beschwörung der "friedlichen Revolution in der DDR" haben sich die Deutschen nicht nur mit 200 Jahren Verzögerung endlich ihren Anteil an einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution sichergestellt; der nachträgliche Jubel über den Erfolg der ostdeutschen Bürgerbewegung von 1989 ist zugleich dazu angetan, von dem Menetekel abzulenken, das der Zusammenbruch der realsozialistischen Abteilung für das gesamte warenproduzierende Weltsystem bedeutet.

Dieser Entwirklichungsmechanismus begann schon zu greifen, als sich die Ereignisse in Osteuropa vor einem Dezennium zu überschlagen begannen. Seine ganze Wirksamkeit kann die Kunst des Vergessens durch falsches Erinnern aber naturgemäß erst mit einem gewissen zeitlichen Abstand gewinnen. Das Medien-Getöse, das derzeit einsetzt, um dann im November pünktlich zum zehnten Jahrestag der "Wende" seinen Höhepunkt zu erreichen, dürfte eine wichtige Etappe bei der Einübung der öffentlichen Meinung in die neue deutsche Ideologie darstellen.

Die Revolution der Kerzenhalter

Die Liebhaber der Zivilgesellschaft bezeichnen das, was sich vor zehn Jahren in Osteuropa ereignet hat, gern als eine Revolution. Nicht von ungefähr verwenden sie dieses große Wort. Es suggeriert, eine selbstbewußt gewordene Gesellschaft habe ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen und ihre Unterdrücker beiseite geschoben. Es klingt nach Aufstand, erbitterten Kämpfen und mühsam errungener Autonomie, kurz, nach den Bildern von Eugène Delacroix.

Zu den Geschehnissen im Epochenjahr 1989 indes paßt diese Vorstellung trotz ihrer Tragweite in keiner Weise. Die Bürgerrechtsbewegung, die angeblich den übermächtigen realsozialistische Koloß aus dem Sattel geblasen hat, war als gesellschaftliche Kraft nie viel mehr als ein Windhauch. Die Umwälzung in Osteuropa verlief nicht deshalb so erstaunlich friedlich, weil die Gegner des Staatssozialismus im Vorfeld ihres Umsturzes schon ganze Arbeit geleistet hätten. Vielmehr war die realsozialistische Ordnung schon von sich aus im Zusammenbrechen begriffen, bevor sich überhaupt so etwas wie ein nennenswerter gesellschaftlicher Widerstand gegen die Zumutungen des Staatsautoritarismus formiert hatte.

Die Verteidiger von Grundrechten wie Andrej Sacharow oder die Charta 77 in der Tschechoslowakei mögen sich durch ein hohes Maß an moralischer Integrität ausgezeichnet haben, über ein Programm, das eine oppositionelle Massenmobilisierung gegen einen auch nur noch halbwegs repressionswilligen Gewaltapparat erlaubt hätte, hat keine Dissidenten-Gruppierung auf dem Gebiet des Warschauer Pakts jemals verfügt. Nicht seine Gegner haben das Sowjet-Imperium zerbrochen, es ist an seinen eigenen Widersprüchen zugrundegegangen. Das Aufkommen von oppositionellen Strömungen hat die Auflösung der gerontokratischen Herrschaft keineswegs verursacht, ihr Auftreten war vielmehr immer nur ein Symptom dafür, wie weit der Zerfall des Realsozialismus bereits fortgeschritten war.

Der gesamte "Transformationsprozeß" in Osteuropa nahm seinen Ausgangspunkt bekanntlich vom absoluten Machtzentrum, nämlich dem Kreml in Moskau. Es ist ein Gemeinplatz: Ohne Gorbatschows Glasnost und Perestroika wäre der Mauerfall ebenso undenkbar gewesen wie die Demokratisierung Polens, der Tschechischen Republik oder Ungarns.

Das Werk der Reformerriege in der KPdSU war für die Veränderungen aber nicht einfach eine unerläßliche Vorbedingung, weil sie mit der rücksichtslosen Repression jeder außerhalb der Partei angesiedelten politischen Regung Schluß machten; die Offensivkapitulation der östlichen Hegemonialmacht vor den westlichen Werten von Markt und Demokratie hat die Satrapenregimes in eine derart tiefe Orientierungskrise gestürzt, daß sie in ihrer Paralyse sofort die weiße Fahne hißten, als sich die an Entmündigung durch die paternalistische Herrschaft des Staates gewöhnte Gesellschaft auch nur zaghaft zu Worte meldete.

Auch ein Machtapparat, der auf tönernen Füßen steht, kann im Zusammenbruch noch reichlich Unheil und Blutvergießen anrichten. Man muß Honecker und Co. auch im nachhinein dafür dankbar sein, daß sie sich einen Abgang in der Götterdämmerung verkniffen haben und sang- und klanglos von der weltgeschichtlichen Bühne abgetreten sind.

Das treibende Motiv, auf die Herstellung eines "himmlischen Frieden" nach chinesischem Vorbild zu verzichten, war aber nie, daß sich die Regierungen in Ostmitteleuropa außerstande gesehen hätten, der Herausforderung einer mit Kerzen bewaffneten Kritik wirksam entgegenzutreten; das eigentliche Problem war vielmehr in der verlorenen Entwicklungsperspektive zu suchen. Das Regime hätte die Macht bewahren können, es wußte bloß nicht mehr, was es mit seiner Macht noch anfangen soll.

Im Zeitalter des Sputnik-Schocks, als die sozialistische Warenproduktion nicht nur militärisch, sondern auch technologisch und in ihrer wirtschaftlichen Dynamik als eine ernsthafte Konkurrenz zum westlichen Modell gelten konnte, hatten die (post)stalinistischen Regimes im sowjetischen Machtbereich einen unvergleichbar breiteren Widerstand gegen die realsozialistische Gleichschaltung gewaltsam und dauerhaft gebrochen.

Mit der Niederwerfung der Aufstände in Ost-Berlin (1953), in Ungarn und Polen (1956) und dem Niederwalzen des Prager Frühlings (1968) setzten die kommunistischen Parteien ihr Politikmonopol durch, marginalisierten jede Opposition und bescherten den realsozialistischen Gesellschaften eine lange Friedhofsruhe. Einzig in Polen können oppositionelle Strömungen überhaupt auf eine gewisse Kontinuität zurückblicken, die auch durch die Verhängung des Kriegsrechts Anfang der achtziger Jahre und die Militärdiktatur Wojciech Jaruzelskis nicht wirklich abgebrochen wurde.

In allen anderen Ländern handelte es sich bei den glorreichen regimekritischen Strömungen von 1989 aber um Spontangeburten mit geringem sozialen Tiefgang. Daß die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung bis in den Herbst 1989 hinein unter den Röckschößen der evangelischen Kirche ihre Spielecke gefunden hatte, macht ebenso deutlich, was von ihr als gesellschaftlicher Kraft zu halten war, wie ihr sofortiges Verschwinden im alsbald einsetzenden Wiedervereinigungstaumel.

Die Kontinuität der Herrschaft

Nicht nur der Verlauf des Umsturzes in Osteuropa paßt schlecht zur Vorstellung, diese Weltregion habe 1989 ihr 1789 erlebt und sich den Weg von einer undemokratischen Diktatur zu den Errungenschaften der bürgerlichen Revolution freigekämpft; auch die personelle Kontinuität der Eliten steht in eklatantem Widerspruch zu dieser emphatischen Sichtweise.

In sämtlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion und Jugoslawiens, mit Ausnahme von Slowenien, sowie in Bulgarien und Rumänien lief seit dem Aufbruch von 1989 jeder Machtwechsel stets nur auf Umgruppierungen innerhalb der bestehenden politischen Klasse hinaus und ihre Ergänzung durch mafiotische Elemente.

Was als Durchbruch zu Markt, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angekündigt war, bedeutet in den einstigen GUS-Staaten vornehmlich die Machtübernahme durch die ehemaligen regionalen Befehlshaber, die ihre Karrieren mit den in der KPdSU erlernten Methoden auf eigene Rechnung und gestützt auf ein regionales Klientel fortsetzen. Von Kroatien bis Usbekistan herrschen nach wie vor und ohne Unterbrechung dieselben.

Ihre Gesichter sind älter, aber kaum hübscher geworden. Daß der Moskauer KP-Chef zum quasimonarchischen Präsidenten aller Reußen aufstieg, ist nicht das Ergebnis einer Entartung, zu keinem Zeitpunkt stand eine grundsätzlich andere - etwa eine emanzipative - Perspektive ernsthaft zur Debatte.

Der Aufbruch von 1989 hat in dieser Weltregion nicht einmal zu Ansätzen einer breiteren demokratischen Mobilisierung geführt, sondern statt dessen die radikale Entpolitisierung, die bereits die Breschnew-Ära kennzeichnete, auf die Spitze getrieben. Die periodische Empörung gegen die Machenschaften des einen oder anderen Regenten dementiert diese Form des Endes der Politik nicht, sondern gehört zu ihrer Verlaufsform.

Auch in Ländern, die ein Plätzchen auf der Türschwelle des europäischen Hauses gefunden haben und einstweilen als verlängerte Werkbänke und Semiperipherie an die westliche Wohlstandswelt angegliedert wurden, weist die Grundtendenz in eine ganz ähnliche Richtung. Nur einen ganz kurzen historischen Moment lang konnte es so erscheinen, als würde sich ein Spalt zu einem neuen Reich sozialer Selbstbestimmung öffnen.

Dieser Augenblick war aber nichts anderes als der Übergang von der Unterwerfung unter die parteiautoritäre Interpretation des gesellschaftlichen Fortschritts hin zur unbedingten Unterwerfung unter die Gebote der marktwirtschaftlichen Dynamik - kurz: die selbstorganisierte Kapitulation vor dem Sachzwangdiktat der globalisierten kapitalistischen Ökonomie.

Wieviel Kontinuität in diesem Wechsel steckt, zeigt schon die Leichtigkeit, mit der die spätkommunistischen Parteien in Tschechien, Ungarn und Polen neusozialdemokratisch gewendet ihre Rolle in dem nach westlichem Muster reorganisierten Parteiensystem fanden und in ihm auch akzeptiert wurden.

Aber auch das Schicksal der von den hiesigen Zivilgesellschaftern so gerne als Ort herrschaftsfreier Verständigung gefeierten "Runden Tische" ordnet sich in diesen Zusammenhang ein. Sie konnten nur die Funktion haben, alsbald zugunsten von ganz normalen armseligen pluralistischen Demokratien abzudanken, weil die ohnmächtigen kommunistischen Machthaber, ihre Opponenten und natürlich auch die westlichen Lobredner sich im entscheidenden Punkt völlig einig waren: Über alle wesentlichen gesellschaftlichen Fragen hat der Markt zu befinden. Das Elend des Sozialismus bestand im Kern darin, dessen Imperativen nicht hinlänglich Rechnung zu tragen. Solange diese Prämisse fraglos akzeptiert wird, ist der Traum von der Souveränität der Gesellschaft über sich selbst aber nur Makulatur. Die einzig adäquate Form, in der die notwendige gesellschaftliche Steuerung im Sinne des Marktes stattfinden kann, ist tatsächlich die des Staates. Ob dessen abgeleitete Diktatur als Demokratie oder als sozialistische Ordnung daherkommt, ist dagegen eine sekundäre Frage.

Transformation ins Nichts

Das Jahr 1989 markiert nicht das letzte Kapitel der großen bürgerlichen Revolution und demokratischen Formgebung, sondern den Kollaps nachholender Modernisierung. Der Osten hat sein 1789 bereits 1917 hinter sich gebracht, und seine Jakobiner hörten auf den seltsamen Namen Bolschewiki. Sie waren es, die mit ihrer politischen Emphase den großen Transformationsprozeß einleiteten, der den abhängigen Osten in die Moderne katapultieren sollte. Ihr Werk läßt sich nicht durch die bloße Veränderung des politischen Vorzeichens erneuern.

Nachdem ihr großangelegtes Projekt an seinen eigenen Widersprüchen und an der Übermacht des entgrenzten Kapitalismus gescheitert ist, kann es in dieser Weltregion im Sinne der Herstellung entwickelter bürgerlicher Verhältnisse keinen Transformationsprozeß mehr geben. Transformation ist heute nur mehr ein euphemistischer Ausdruck für den beschleunigten Erosionsprozeß, dem die bürgerliche Staats- und Marktherrlichkeit im Zeitalter der Krise der Nationalökonomien an der Peripherie des totalen Weltmarktes unterliegen.

Daß den mitteleuropäischen Randstaaten, die durch die Folgen des Zweiten Weltkrieg in den sowjetischen Machtbereich gerieten, in den letzten zehn Jahren eine provisorische Stabilisierung gelungen ist, darf von diesem Zusammenhang nicht ablenken. Für drei Viertel der Bevölkerung des ehemaligen Ostblocks bedeuten alle Reformanstrengungen schon jetzt nichts anderes als beschleunigte Verarmung.

Aber auch die "glücklicheren" Polen, Ungarn und Tschechen können zukünftig nicht einmal annähernd das Wohlstandsniveau des westlichen Marktarkadiens erreichen, sondern werden spätestens beim nächsten weltwirtschaftlichen Krisenschub in die marktwirtschaftliche Hölle der Ukraine und Rußlands geschickt werden.