Schröder in Ungarn

Der feuchte Händedruck

Am 10. September 1989 öffnete Ungarn den ersten Spalt im "Eisernen Vorhang". Entgegen einem bilateralen Abkommen mit der DDR erlaubte es die Ausreise von DDR-Bürgern nach Österreich, auch wenn diese keine Ausreisegenehmigung der ostdeutschen Behörden besaßen.

In der BRD-Botschaft in Budapest, wo sich viele Ausreisewillige versammelt hatten, um in die Arme des Klassenfeindes zu taumeln, brach Jubel aus. Die Trabis setzten sich zu Tausenden in Bewegung. Das Geschenk Gottes, die Wiedervereinigung, konnte freudig in Empfang genommen werden. Auf ewig war das deutsche Volk nun dem ungarischen Volk freundschaftlich verbunden. Der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher dankte der Budapester Regierung: "Das werden wir nie vergessen."

Nun ist es mit der Erinnerungsfähigkeit der Deutschen so eine Sache. Um sie unter Beweis zu stellen, reiste am zehnten Jahrestag dieser Ereignisse Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Budapest zum Festakt. Schröder wiederholte im dortigen Parlament "die Mantra der deutschen Politik zur Grenzöffnung" (Die Welt), dankte brav für die konsequente Haltung in den Jahren 1989/90 und würdigte auch die Mitwirkung Ungarns am Krieg gegen Jugoslawien. Kurz vor Beginn des Krieges hatte das Land als erste Belohnung die Nato-Mitgliedschaft erhalten.

Ein anderes Bewerbungsschreiben aus Ungarn liegt indes immer noch unbeantwortet auf den Schreibtischen in Brüssel: das zum Beitritt in die Europäische Union. Verbitterung darüber brachte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban zum Ausdruck: "Wer damals an den Grenzen die deutschen Bürger vor Freude weinen und die Freiheit suchen sah, ahnte wahrscheinlich nicht, daß diese Grenze in zehn Jahren immer noch Ungarn und die EU voneinander trennen würde."

Durchlassen ist eben etwas anderes als Reinlassen. "Dieses kleine, tapfere ungarische Volk" (Genscher im NDR) kann zwar auf einen EU-Beitritt hoffen, auf ein genaues Datum will sich allerdings niemand festlegen. Für Viktor Orban könnte es das Jahr 2002 sein: "Es ist das Jahr, in dem Ungarn bereit zu sein hat."

Während die einen noch in der Warteschleife hängen, stellt der Mann an der Kasse klar, wer die Preise macht. Der für die Erweiterung zuständige designierte EU-Kommissar Günter Verheugen warnt, das Ganze werde "sehr viel teurer" als angenommen. Mit einem 500-Millionen-Mark-Kredit, wie ihn Ungarn für die damalige Grenzöffnung erhalten hat, wird es wohl nicht getan sein. So referierte Schröder in Budapest lieber über die gewachsene deutsche Verantwortung in Europa und über die deutsche Politik des "aufgeklärten Eigeninteresses": "Deutschland leugnet seine Eigeninteressen - die es wie jede andere Nation auch hat - nicht."

Derart offen zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein führt im Freundeslager längst zu Irritationen. Die deutsche Orientierung nach Osten wird nun - nach Frankreich - auch in den USA mit Argwohn betrachtet. So schrieb letzte Woche die Washington Post: "Die Regierung von Kanzler Schröder hat sich auf eine ehrgeizige Strategie eingelassen, Deutschlands Einfluß in der Region auszudehnen."

Aber nicht nur die Aussicht auf die neuen Märkte im Osten könnte die Beitrittsverhandlungen mit Ungarn beeinflussen. Mehr noch als die Erfüllung der wirtschaftlichen Stabilitätskriterien wird den Ungarn die Fähigkeit, Grenzen dichtzumachen, abverlangt. Die Washington Post zitiert Michael Stürmer, einen ehemaligen Berater von Helmut Kohl: "Die gegenwärtige deutsche Außenpolitik unterliegt einer simplen Priorität: arme Ausländer daran zu hindern, unser prosperierendes Land zu überschwemmen."

Es könnte sich herausstellen, daß der einst bejubelte zwanglose Umgang mit Grenzen die Schwachstelle im Bewerbungsschreiben Ungarns an die EU darstellt. Reisefreiheit ist manchmal eine Einbahnstraße. Die Ost-Erweiterung wird erst stattfinden, wenn sie sich rechnet und nicht zum Anstieg der Asylbewerberzahlen führt. Den Zeitpunkt bestimmen wir.

Ein Tip für die Magyaren: Am besten sich gleich zu einem neuen Bundesland Deutschlands erklären, dann geht's schneller. Und vielleicht klappt es dann sogar mit den blühenden Landschaften.