Der wie der Wolf heult

Der Präsident des Revisionsgerichtes in Ankara kritisiert die türkische Verfassung

Und wieder heulen die Wölfe den Mond an: "Wenn wir doch erst die Verfassung geändert hätten, dann würde endlich die Demokratie in unserem Rudel ausbrechen" - und so heulen sie und heulen, doch der Mond gibt ihnen leider kein Zeichen. Und so bleibt alles wie gehabt. Oder doch nicht?

Angestimmt wurde das Heulkonzert von niemand Geringerem als dem ehrenwerten Präsident des Revisionsgerichtes, Dr. Sami Sel ç uk, auf seiner Rede nach dem Ende der juristischen Sommerpause in Ankara. Staunend blieb seinem Publikum der Mund offen stehen: "Die Demokratie regiert die Republik nicht, die Republik regiert die Demokratie"; "die Verfassung von 1982 ist keine gewachsene, sondern eine erlassene Verfassung, sie ist ungültig und illegitim"; "ein Staat, der die Gedankenfreiheit einschränken muß, verrät die persönliche Freiheit seiner Bürger. Regime, die das Risiko freier Meinungsäußerungen nicht ertragen können, nennt man Diktaturen"; "jede Kultur ist eine Bereicherung, kulturelle Diskriminierung ist ein Verbrechen an der Menschheit"; "die türkische Republik vertritt einen Laizismus, der durch die theokratische Organisation des Staatsapparates sein eigentliches laizistisches Prinzip sabotiert".

Die Rede wurde in den türkischen Medien als "Markstein in der türkischen Geschichte" hochgejubelt. Ministerpräsident Bülent Ecevit sprach die bedeutungsvollen Worte, alle müßten nun gut über das Gesagte nachdenken, Staatspräsident Süleyman Demirel zog es vor, nichts mehr hinzuzufügen.

Seit 17 Jahren bereits wird versucht, die 1982 nach dem Putsch von der Militärregierung erlassene Verfassung umzuschreiben. Seit 1987 wurden immer wieder Verfassungsänderungen vorgenommen, um diese dann regelmäßig durch Sondergesetze wie das "Anti-Terrorgesetz" wieder zu neutralisieren.

Die letzte große Reform gab es im Rahmen des Prozesses gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan. Weil Ankara genau wußte, daß die umstrittenen Staatssicherheitsgerichte - in deren Richtergremium immer ein Militärrichter sitzt - vor dem Europäischen Gerichtshof einen absoluten Revisionsgrund liefern würden, wurde kurz vor Prozeßende eine Änderung in den Statuten der Staatssicherheitsgerichte durchgeführt und der Militärrichter durch einen Zivilrichter ersetzt - in einem bislang noch nie erreichten Tempo. Dies änderte natürlich nichts am Urteil und an der Tatsache, daß auch das zivile Richtergremium im Öcalan-Prozeß niemals ein Urteil gefällt hätte, welches nicht vom Generalstab abgesegnet worden ist. Indirekt gab dies sogar der Vorsitzende Richter, Turgut Okkay, zu, indem er nach der Urteilsverkündung erklärte, er sei als Jurist eigentlich gegen die Todesstrafe.

Betrachtet man die Gesetzesänderungen der vergangenen siebzehn Jahre, wird allerdings sehr schnell erkennbar, wer in der Türkei am Ruder sitzt. Nach dem Militärputsch von 1980 waren zunächst alle Parteiführer verhaftet und mit Politikverbot belegt worden, neben einer direkt von den Militärs dominierten Partei existierte noch die Mutterlandspartei (Anap) des von den USA protegierten Turgut Özal.

Özal dominierte die Politik der achtziger Jahre und machte aus der Türkei eine "nach Westen sich öffnende freie Marktwirtschaft": eine Pseudo-Demokratie mit geknebelten Gewerkschaften und einer vom Ausland abhängigen Wirtschaft mit hoher Staatsverschuldung, deren einziger Freiraum sich auf eine Duldung von Schwarzgeld und die Verstrickung von Staatsbürokratie und Mafia begrenzt. Özal war es auch, der mit dem Segen der Generäle den Ausbau religiöser Schulen als Bollwerk gegen den Kommunismus förderte.

Ende der achtziger Jahre brauchte man zur Demokratie-Demonstration wieder eine Mehrparteiendemokratie. Und so wurde das Politikverbot für die alten und insofern am wenigsten gefährlichen Parteichefs aufgehoben. Bülent Ecevit, Süleyman Demirel, Islamistenführer Necmettin Erbakan und das Oberhaupt der Faschisten, Alparslan Türkes, kehrten in die Politik zurück; als neues Gesicht tauchte die in den USA ausgebildete und mit der CIA in Kontakt stehende Tansu Çiller als Elevin Demirels auf, Turgut Özal protegierte den durch seinen Bruder mit der deutschen Wirtschaft verbundenen Mesut Yilmaz.

In den neunziger Jahren verabschiedete sich Demirel nach groß angekündigten demokratischen Reformen aus dem Ministerpräsidentenamt und wurde nach dem Tod Turgut Özals Präsident. An seine Stelle trat Tansu Çiller als erste Frau an der Spitze der Republik, blonde Galionsfigur einer moderneren Türkei.

Doch die ewig lächelnde Dame entpuppte sich als schwarze Witwe. Tansu Çiller vervollständigte die von Özal begonnene Verstrickung von Mafia und Staat im Namen der Anti-Terror-Bekämpfung, vor allem Drogen- und Waffenschmuggel wurde zur Geldquelle der - gegen PKK, Zivilbevölkerung und Regimegegner operierenden - Kontraguerilla und füllte daneben noch die Taschen von Parteichefs und Staatsbürokraten. Diese Verstrickung wurde 1997 bei einem Autounfall offenkundig, als ein Abgeordneter aus Çillers Partei, ein Polizeipräsident und der international von Interpol gesuchte Killer und Drogenschmuggler Abdullah Çatli in der Nähe der westanatolischen Stadt Susurluk verunglückten.

Doch da besann sich Ankara wieder auf die islamistische Bedrohung. Der Generalstab setzte eine Arbeitsgruppe mit dem bedeutungsvollen Namen "Arbeitsgruppe des Westens" ein, die das Ausmaß der islamistischen Gefahr studierte und einen Schlachtplan zu deren Bekämpfung ausarbeitete. Außerhalb jeden juristischen Rahmens wurden wieder Sondergesetze erlassen, die islamistische Partei verboten, Erbakan und der populäre Oberbürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan, mit Politikverbot belegt, zivile islamistische Organisationen verboten und deren Funktionäre angeklagt.

Und jetzt? Annonciert der Präsident des Revisiongerichtes einen Wandel, eine demokratische Radikalreform, die Freilassung aller politischen Gefangenen, kulturelle Rechte für die kurdische Minderheit, die Abschaffung der Zensur und eine Aufhebung des Verbotes von Parteien? Oder nur ein geschickter Schachzug, mit dem Ecevit sein demokratisches Image aufpolieren will, damit Außenminister Ismail Cem bei seinen Verhandlungen mit der EU wieder ordentlich auf den Tisch hauen kann?

Das türkische Establishment weiß, daß die Europäische Union wieder einen Schritt in die Richtung einer Integration der strategisch wichtigen Türkei macht. Ministerpräsident Bülent Ecevit, bislang treuester Büttel des Militärs, hat nach dem Erdbeben einen starken Popularitätsverlust erlitten, indem er die einwöchige Zensur eines kritischen Fernsehkanals und seinen Gesundheitsminister verteidigte, der rassistische Sprüche über die ausländischen Hilfsteams geklopft hatte.

Man kann gespannt sein, ob das ehrenwerte Revisionsgericht damit fortfährt, über die Verfassung zu richten und politische Urteile nach dem Willen Ankaras bzw. des Generalstabs zu fällen. Den interessiert die Verfassung gemeinhin wenig, und er verfügt ganz machiavellistisch über die Entwicklung etwa im Prozeß gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan oder darüber, ob die islamistische Partei verboten bleibt oder nicht. Und so können die Wölfe weiter den Mond anheulen ...