Die westliche Zivilisation und ihre Verteidiger

Zu Udo Wolters Artikel "Skipetaren und Barbaren".

Es gibt in der Linken seit einigen Jahren eine merkwürdige Spezies von Schreibern, die theoretisch versilbern, was als linker Konsens gerade gilt und zu diesem Behuf stets den Gottseibeiuns präsentieren müssen, den sie exemplarisch abstrafen. Ein Gesellenstück in dieser Disziplin hat in der Jungle World (Nr. 38/99) der bis dahin solchen Tuns eher unverdächtige Udo Wolter vorgelegt. Das Böse trägt wie so häufig den Namen Jürgen Elsässer, gehandelt wird aber selbstverständlich von den Antideutschen.

In seinem Ringen um die linke Mitte setzt Wolter bravourös das Mittel der tödlichen Umarmung ein, wie sie gemeinhin in Rhetorik-Seminaren des DGB eingeübt wird. Etwa so: "So richtig Elsässers Feststellung (...), so falsch ist sein völlig unreflektierter Umgang ..." Oder das vergiftete Zuckerl: "Die berechtigte antideutsche Kritik am völkisch albanischen Nationalismus (...)"

Ist Spitze? Notwendig? Verdienstvoll? Nichts da: ist "durchsetzt von rassistisch eingefärbten Stereotypen".

Was war passiert? Elsässer hat in konkret (Nr. 9/99) einen Artikel über die kosovo-albanische Bandengesellschaft geschrieben, in dem er sich zustimmend auf Passagen eines astrein rassistischen Hetzartikels bezog, der wenig vorher im Spiegel erschienen war. In gesinnungstüchtigen Kreisen reicht das schon: selber Rassist. Damit alles ins Bild paßt, wartet Wolter noch mit dem von der interessierten Szene längst als Rassisten gehandelten Wolfgang Pohrt auf und zur Sicherheit noch mit dem Autor dieses Textes, der letztes Jahr als potentieller Vergewaltiger islamischer Frauen geoutet wurde.

Was will Udo Wolter? Er kämpft an gegen einen "unreflektierten Universalismus", der "mit dem Gestus absoluten Wahrheitsanspruches vorgetragen" werde. Dieser Universalismus bestehe in eurozentristischer und kulturalistischer Weise auf dem Erbe des Abendlandes, das gegen "barbarische Formationen" zu verteidigen sei. "Können sich also nur die 'Sieger' der entfesselten globalkapitalistischen Konkurrenz noch einen Hauch von Humanität leisten?" fragt Wolter, und weil ihn diese Frage, die durchaus zentral gewesen wäre, gar nicht interessiert, schiebt er eine zweite, kitschige, nach: "Und wenn ja, auf wessen Kosten?"

Wolters Text erfüllt tatsächlich das selbstgesetzte Kriterium: Er ist "reflektiert", ausgewogen, nachdenklich. Er rettet die Theorie vor dem Zugriff der Kritiker und führt sie heim in den eigentlichen Ort ihres Seins, ins Universitätsseminar. Ein schillerndes Sammelsurium von Belegstellen aus Adorno, dem antizionistischen Scharfmacher Edward Said (Stichwort "Orientalismus") und Robert Kurz, der ihm dort brauchbar erscheint, wo er reflektiertes Nicht-Verhalten empfiehlt, soll erklären, daß zwischen serbischem und albanischem Nationalismus nicht zu unterscheiden sei.

Man kann die Sache mit den westlichen Werten (ein Wort, das Elsässer wegen seiner ideologischen Schmierigkeit und theoretischen Beliebigkeit besser gemieden hätte) ganz antikolonialistisch angehen. Dann erscheint die Weltgeschichte als eine Art Strafregister der westlichen Nationen, und die Täternationen können für ihre Untaten moralisch verurteilt und mit Hilfe eines Weltzivilgesetzbuches wegen Eroberungs- und Ausrottungsfeldzügen des 16. Jahrhunderts haftbar gemacht werden. Auf die historischen Sieger und auf ihre Zivilisation fällt so das Licht der Unmenschlichkeit. Eine durchaus richtige Feststellung übrigens, die jedoch wenig weiter hilft.

Sinnvoller ist es, die Welt von der Siegerseite her zu kritisieren. Denn schließlich haben sich die Sieger die Unterworfenen gleich gemacht, was sich zum Beispiel in dem verrückten Anliegen einiger afrikanischer Juristen manifestiert, gegen europäische Staaten und die USA Klage auf Schadensersatz wegen Sklaverei zu führen.

Je stärker Nationen, die sich nachholend entwickeln wollen, im Zeichen des Massenelends sich auf ihre Identität besinnen, desto fester stecken sie in der eisernen Umklammerung jener westlichen Zivilisation, von der sie sich so unbedingt unterscheiden wollen. Sie erweisen sich mit ihrer Selbstzurichtung zu ethnisierten Zwangskollektiven unfreiwillig als Voraustruppe eines scheinbar unvermeidlichen Entwicklungsganges, der längst die Metropolen erreicht hat.

Die persönlichen Zwangsverhältnisse, aus denen die bürgerliche Gesellschaft die Bevölkerung der alten Welt entlassen hat, sind einem neuen, nunmehr nicht mehr plastisch als Staatsorgan, Ausbeuter oder Autoritätsperson abbildbaren Zwang gewichen. Ein Zwang, der nicht nur alle Bürger sich restlos unterwirft, sondern auch die Welt der Wünsche und Träume gefangen hält. Das, was einmal als Freiheit herbeigesehnt wurde, der autonome Bürger in seiner selbst eingerichteten Welt, ist zur bloßen Chimäre verkommen. Mit der ökonomischen Autonomie des freien Warentauschers, der sich auf dem Markt der Waren, Argumente und Leidenschaften mit seinesgleichen vergleicht, ist es längst vorbei. Der freie Unternehmer wie der freie Arbeitskraftverkäufer, Leute, die ausziehen, ihr Glück zu machen im sicheren Wissen der Bremer Stadtmusikanten - "etwas Besseres als den Tod findest du immer" -, sind einer unglücklichen, farcenhaften Attrappe ihrer selbst gewichen. Früher mindestens so sehr Jagender wie Gejagter, begrenzt souverän und vor diesem Hintergrund zum Genuß bis hin zum Luxus fähig, stellt sich das bürgerliche Subjekt als bloßes Anhängsel eines ihm völlig unbegreiflichen Marktgeschehens dar, und der Wunsch nach dem Ausbruch ist einer Todessehnsucht gewichen, die sich hemmungslos betriebsam ins gewußte Verhängnis stürzt.

Auch die andere Seite des Bürgerideals der Aufklärung hat ausgespielt, und der politische Staatsbürger wurde kassiert. Der war, seine Interessen dabei immer fest im Auge, auf die Durchsetzung der gesellschaftlichen Vernunft abonniert und hing dem unmöglichen Traum einer nach seinem Ideal eingerichteten Welt nach.

Was heute sich politisch äußert, hat damit nur noch die Institutionen und Verfahrenswege gemein. Die bürgerliche Welt und den freien Markt fürchtend wegen des darin einmal Aufbewahrten, der Subjektivität, rottet sich der nachbürgerliche Staatsbürger um seinen Staat zusammen auf der Suche nach dem Klebstoff, der die Vereinsamten zur Schicksalsgemeinschaft verbindet, und transformiert die politische Gesellschaft in die Fahrgäste jenes Zuges, der zwar ohne Bremsen und in unbekannte Richtung fährt, aber den Vorteil hat, daß alle, die dazugehören, freiwillig darin sitzen.

Objektiv und transzendent bleibt in diesem Verhängnis nur die Vergesellschaftung unter den Wert. Diesem Sachzwang ist die gesamte Welt unterworfen. Insofern ist sie globalisiert, und die Unterschiede der jeweiligen nationalen Auskleidung dieses unheimlichen Verhältnisses sind tatsächlich relativ. Insoweit sind sich Serben und Albaner, Deutsche und Franzosen tatsächlich gleich.

Allerdings gibt es den Weltgeist nicht mehr, der in Robert Kurz' Jugoslawienbetrachtungen, aus denen Udo Wolter seine Argumente nimmt, noch herumspukt. Die Entwicklung der wertvergesellschafteten Welt ist mangels interessegeleiteter Protagonisten ein geschichtsloser Verlauf. Schon deshalb kann das Potential zur positiven Aufhebung des Verhängnisses darin nicht beschlossen sein, und eben deshalb ist die bei Kurz und Wolter auffällige Anstiftung zur Passivität Kapitulantentum.

Der Weltgeist ist spätestens 1919 gestorben, als die Weltrevolution als tatsächliche Möglichkeit, ausgehend von den Metropolen, in denen sich das gesellschaftliche, ökonomische und theoretische Potential zur Zerstörung der kapitalistischen Vergesellschaftung zusammenballte, kläglich in sich zusammenbrach.

Seither kommt es darauf an, zu retten, was an menschlichen und intellektuellen Potentialen für den zweiten Versuch in Betracht kommt, und zu kritisieren nicht nur das allgemeine Verhängnis, sondern seine regional und national höchst unterschiedlichen Ausprägungen. Diese Fähigkeit zur Kritik wird dort am leichtesten zu finden sein, wo das Unheil genauso wie die Hoffnung auf seine Überwindung ihren Ursprung hatten. Nicht, weil dort die besseren Menschen leben, sondern weil dort der Zusammenhang von demokratischem Unheil und seiner Überwindung noch rekonstruiert und Befreiung im universellen Sinn gedacht werden kann. Nicht, weil die Weltmarktverlierer Dummköpfe wären, sondern weil Reste von politischer Gesellschaft, die den totalen völkischen Zugriff auf den einzelnen noch hindern, und Reste von Muße, ohne die Kritik nicht geübt werden kann, in den westlichen Demokratien noch vorhanden sind.

Es geht nicht um die universalisierte Welt im Sinne der Marktvergesellschaftung, sondern um den Universalismus als alle Grenzen niederreißende Verheißung der Vernunft. Insofern besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen albanischer und serbischer Gesellschaft oder zwischen der deutschen und der französischen. Ein Unterschied, den zu erkennen einen in die Lage versetzt, zwischen Aggressoren und Überfallenen zu unterscheiden, aber auch zwischen den ideologisch wie praktischen Wegbereitern der ethnisierten Welt und den hilflosen Bewahrern einer politischen Gesellschaft. Wer wie Wolter zwischen Serben und Albanern keinen Unterschied mehr machen will, hat sich konsequent auch im letzten deutschen Krieg nicht verhalten. Wer wie Elsässer allzu große Stücke auf die z.B. französische politische Gesellschaft im Gegensatz zur deutschen völkischen hält, gerät zwar in Gefahr, ein romantisches Bild von der (früh)bürgerlichen Zivilisation zu zaubern und wird sie als "Korrektiv zum bloßen Macht- und Gewinnstreben" hochleben lassen, was nun wirklich peinlich ist. Er wird aber imstande bleiben, gegen die deutschen Verhältnisse - und dazu gehört nun mal die kosovo-albanische Gemeinschaft - kritisch zu Felde zu ziehen.

Wer dagegen vor der Gefahr des "Balkanismus" in Analogie zum Orientalismus schwafelt, macht es zwar den Antirassisten und anderen unfreiwilligen Ethnisierern recht, wird aber dem "Konstrukt" albanische Gesellschaft nicht ins höchst materielle Gesicht schauen können. Die kosovo-albanische Gesellschaft ist nämlich so barbarisch, blut-und-boden-tüchtig und hundertprozentig solidarisch, daß der Rassist vom Spiegel sie gerade wegen ihres Rassismus, der dem der deutschen so ähnlich ist, adäquat abbilden kann und darüber hinaus in den anti-albanischen Haßtext zugleich die völkischen Greuel hinein projiziert, die er sich von der deutschen Standortgemeinschaft insgeheim erwartet.