Splitter im Auge

Nachlese zu Stanley Kubricks eiskaltem Vermächtnis.

Es kann durchaus sein, daß jemand, den das Feuilleton genial nennt, grandios scheitert. Vorsicht ist allerdings da geboten, wo dieses Scheitern ausgerechnet am Thema Sex konstatiert wird. Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut" ereilt das gleiche Schicksal, wie weiland Madonnas Sex-Buch: Man ist beleidigt über die Banalität der sexuellen Phantasien.

Doch Buch und Film haben ebenso gemeinsam, daß das Skandalöse, Spektakuläre und Schamlose vorab herbeigeschrieben wurde. Die Enttäuschung kommt, weil die eigenen Sehnsüchte nicht befriedigt wurden. Als hätte es Kubrick mit seiner Geheimniskrämerei provozieren wollen, wendet sich der Titel des Film gegen seine Rezensenten. Das wäre, wenn nicht genial, so doch immens klug: Ein ganz bestimmter Blick von Dr. William Harford nämlich hätte dann die mutmaßliche zukünftige Wahrnehmung des ganzen Films schon vorweg genommen. In dem Moment, wo ihm seine Ehefrau Alice genüßlich von ihren Seitensprungphantasien erzählt, weiten sich die Augen des virtuell Betrogenen - und das, um fortan nur noch nach innen zu schauen. Statt wirklich zu sehen, was um ihn herum passiert, flüchtet sich der Blick in die diffusen Konstruktionen der eigenen Gehirnwindungen. Vergleichbares läßt sich zum Blick der Rezensenten sagen. Sie reißen die Augen weit auf, um dann in einer spekulativen Innenschau den Film doch nur zu verreißen.

Die Konstruktion eines derart spitzfindigen Beziehungsgeflechts geht allerdings davon aus, daß Kubrick mit "Eyes Wide Shut" nicht bloß eine modernisierte Fassung von Arthur Schnitzlers "Traumnovelle" (1926) probte, sondern diese zum Anlaß nahm für einen Blick hinter die Kulisse der geordneten Verhältnisse einer gesellschaftlichen Majorität, fokussiert im Bild einer Arztfamilie.

Ich habe mich gefragt, warum Stanley Kubrick ausgerechnet das Ehepaar Nicole Kidman und Tom Cruise für das Ehepaar Harford ausgewählt hat. Zunächst einmal bricht die Filmstory auf und öffnet ein Schlüsseloch, durch das man meint, in eine alltägliche Lebenswelt blicken zu können - für die es nicht wirklich wichtig ist, daß sie nur eine medial verfertigte ist; Medien gehören zu unserer alltäglichen Lebenswelt. Doch ebenso wichtig scheint mir, daß es auf dem (US-amerikanischen) Markt kein Ehepaar gibt, das gerade als Ehepaar diese grundlegende Unterkühltheit und Gleichgültigkeit im gemeinsamen Zusammenleben spielen kann.

Allenfalls Elizabeth Taylor und Richard Burton wäre das zuzutrauen gewesen. Aber vielleicht auch nicht, denn Kälte und Gleichgültigkeit wurden von beiden immer mit einer unterschwelligen Leidenschaft gespielt, während es bei Kidman/ Cruise genau anders herum ist. Leidenschaft und Überschwang, Begierde und Schmerz werden durch diese permanent präsente Unzugänglichkeit und Teilnahmslosigkeit zwischen ihnen ausgebremst.

An dieser Stelle beweist die Schnitzlersche "Traumnovelle" scheinbar mehr Plausibilität als der Film. Für Fridolin sind Albertines wiederholte Seitensprungträumereien schlicht ein Treuebruch und seine nächtlichen Begegnungen mit der Tochter eines verstorbenen Patienten, einer Hure und einer unbekannten Schönen auf einer geheimnisvollen Maskenball-Orgie (Begegnungen, die der Film getreu wiederholt) geschehen aus Rache, "und er schwor sich, sie alle zu Ende zu erleben, sie ihr dann getreulich zu berichten und so Vergeltung zu üben an dieser Frau, die sich in ihrem Traum enthüllt hatte als die, die sie war, treulos, grausam und verräterisch, und die er in diesem Augenblick tiefer zu hassen glaubte, als er sie jemals geliebt hatte".

Kubricks Film weiß von diesem leidenschaftlichen Zorn nichts, will es auch gar nicht, denn Fridolin und Albertine agieren auf der Grundlage von Sittengesetzen und Geschlechterrollen, die es für William und Alice nicht mehr gibt. Kubrick begründet dies mit einem völlig sinnentleerten Wortgefecht zwischen William und Alice, in das sich beide hineinsteigern, nachdem Alice von ihren Gelüsten erzählt hat. Bitterböse zeigt Kubrick hier, daß es keine vernünftigen oder leidenschaftlichen Argumente dafür gibt, daß sich William in die träge Monotonie eines sich immer wiederholenden Alltags eingerichtet hat und Alice vor Langeweile über ihr eigenes Einerlei fast stirbt. Kubrick läßt sie das indes nicht erzählen, sondern (er)findet dafür Bilder. William wird in der Klinik und seiner Praxis gezeigt, Alice bei ihren häuslichen und mütterlichen Verrichtungen.

Und noch eins wird in diesen Bildern deutlich. Der menschliche Körper ist dazu da, diszipliniert, gereinigt und gebildet zu werden - that's it. Das Grundmotiv von "Full Metal Jacket" (1987) scheint hier wieder aufgegriffen, aber statt in immer wiederkehrenden Ritualen zum Killer zu werden, verfällt der Mittelständler in Erstarrung. Und da es, wenn man Kubricks pessimistischer Gesellschaftstudie glaubt, "allen" so geht, sind auch die erotischen Phantasien, die in dieser Atmosphäre entstehen, absolut banal.

Marion (die Tochter des Patienten) probiert zwar, wie es sich anfühlt, William tränenüberströmt zu gestehen, ihn zu lieben, heiraten aber wird sie - wie sollte es heutzutage anders sein - den Mathematik-Professor. (Wie man vorab aus der Werbung erfährt, hat Givenchy zeitgeistgemäß das Parfum für diesen Mann kreiert: "Pi".) Die Hure scheint eigentlich nur froh zu sein, daß William gerade da ist und ihr gefügig folgt. Und die Gesellschaft auf dem ominösen Maskenball? Hübsch drapiert wie auf einem Foto von Helmut Newton sitzt sie in völliger Teilnahmslosigkeit um konvulsivisch zuckende Paare und ödet sich, versteckt hinter mehr oder weniger phantastischen Masken, an.

Sydney Pollack (als Victor Ziegler) ist die Aufgabe zugedacht, Tom Cruise über die Trivialität dieses gesellschaftlichen Treibens aufzuklären. Und Cruise selbst? Man kann nicht mal schreiben, er bewegt sich wie in Trance durch diese nächtliche Szenerien. Eher müßte man ihn wohl als gepanzert bezeichnen, geschützt durch einen soliden Wintermantel und bequeme, wetterfeste Lederschuhe. So stereotyp die Geste wirkt, so überzeugend signalisieren seine vor der Brust verschränkten Arme jedoch, mit welcher psychischen Disposition sich Tom bewegt. Auch wenn er an den Ereignissen teilhat, ein bißchen mitspielt, bleibt er emotional distanziert und unberührt. Und Alice/Kidman? Der Inbegriff schmallippiger, zickiger Arroganz. Es wurde viel geschrieben über ihren Blick in den Spiegel, vor dem sie und Tom am Anfang nächtens und nackt stehen, während Tom an ihrem Hals knabbert. Aber es ist ganz einfach. Sie blickt gelangweilt auf das, was irgendwo als ihr "köstlicher" Körper beschrieben wurde; gleichgültig checkt sie, wie das aussieht, was sich eheliche Zärtlichkeit nennen mag. Für diese Rolle ist Nicole Kidman die Idealbesetzung, da sie, selbst wenn sie einen Orgasmus spielt, aussieht wie eine Oberlehrerin in einer Klosterschule.

Bleibt noch der Schluß, die Versöhnung. In der Novelle findet sie im ehelichen Bett statt, bei Kubrik reicht ein Spielwarenladen (sic!), der Verkehr zwischen den Verkaufsregalen, um das abzuhandeln. Und weil sich nun der Text dicht an die Vorlage hält, wirkt er um so grotesker: "Die Wirklichkeit einer verwirrenden Nacht kann nie die volle Wahrheit sein" und "Und kein Traum ist völlig Traum" und "Nun sind wir wohl aufgewacht" und "Es gibt etwas sehr Dringendes, was wir jetzt tun müssen ... Ficken". Gnadenlos läßt Kubrick die beiden in diesem grandiosen Mist agieren (der 1926 weniger schrecklich war), um - davon bin ich überzeugt - am Ende auch noch zu zeigen, daß beide hier nur Literatur zitieren und unempfundene Worthülsen von sich geben, froh über die gegenseitige Vergewisserung, noch mal heil davongekommen zu sein und wieder zur Routine zurückkehren zu dürfen.

Das ist das bitterböse und eiskalte Vermächtnis, das Stanley Kubrick hinterlassen hat. Und ihm sei gedankt dafür, daß ihm nichts eingefallen ist, wie man daraus entfliehen kann.