Alchemie als Dialektik

Die Revolution gebiert den Goldkettchen-Kapitalismus. Viktor Pelewin bedient sich im Depot sowjetrussischer Mythen.

Wie wird das Maschinengewehr eines Rotarmisten zur nihilistischen Vernichtungswaffe einer asiatischen Gottheit? Wann waren Leichen alltägliche russische Einrichtungsgegenstände? Kann man auch nach dem XX. Parteitag den ewigen Kick durch ein Pilzragout bekommen? Wer die Antwort sucht, muss entweder das siebenbändige "Lexikon des Humors der Völker" bemühen oder besser: Viktor Pelewins Roman lesen, der im Schnelldurchlauf durch 80 Jahre russischer Geschichte führt.

Pelewins angenehm wüst-artistische Erzählung "Buddhas kleiner Finger", das mittlerweile vierte ins Deutsche übersetzte Buch des 1963 geborenen Autors, nimmt sich der historischen Figur Wassili Tschapajews, des legendären Helden der Roten Armee in der Zeit des dreijährigen russischen Bruderkrieges an, über den man sich im sowjetischen Russland unzählige Witze zu erzählen wusste. Doch die Schatzkammer sowjetischer Folklore mit all den Witzen über Lenin, Stalin, Breschnew und eben Tschapajew, schien in den Neunzigern in Vergessenheit zu geraten, jetzt verspottete man den Neuen Russen, einen Typen mit Handy und rotem Sakko, der plötzlich zu Reichtum gekommen war. Doch im Kalauer über den Neuen Russen, so Pelewin, erfuhr die Tschapajew-Figur mit ihrer Haltung des Mir-kann-keiner eine zeitgemäße Neuinterpretation.

Pelewin verfolgt die Abenteuer Tschapajews, der gemeinsam mit seinem Adjutanten Pjotr Pustota seine Truppen im Vorgebirge des Ural konzentriert, um gegen die "Weißen" ins Feld zu ziehen, und kommt schließlich im Russland der Gegenwart an, wo die Kommunisten gerade den Kapitalismus errichten, "nach dem einzigen Modell, das sie kannten - nämlich so, wie er von Karikaturisten in der sowjetischen Presse allzeit an die Wand gemalt worden war. Der Ismus ist ein anderer, das ist alles." (Pelewin)

Die zentrale Figur des Romans ist jedoch der Adjutant Tschapajews. An der Seite des Feldkommandanten kämpft der Petersburger Bohemien und zweitklassige Poet Petja. Von der Tscheka, der politischen Polizei zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage, wegen eines vermeintlich reaktionären Gedichtes verfolgt, gerät er in ein Handgemenge, erwürgt einen Schulfreund, muss seine Identität wechseln und stürzt sich fortan in das Kriegsabenteuer mit Tschapajew. Seit diesem Augenblick führt er ein Leben auf der Flucht vor seinen Häschern, und rennt im Zickzackkurs durch die historischen Kulissen.

"Buddhas kleiner Finger" ist eine Geschichtsfälschung, oder, wenn die Geschichte die Instanz ist, die eine gefälschte Version der Wirklichkeit institutionalisiert, so ist Literatur die offene Täuschung. Literatur wird zur Instanz, die sich mit Auskünften über und Modellen für Täuschungsverfahren beschäftigt: "Was, wenn der sowjetische Mythos nicht der Lack auf einer ungestalten Wirklichkeit, sondern im Gegenteil die Verzerrung und Fälschung einer heroischen, grandiosen Wahrheit wäre?" fragt Pelewin in seinem Nachwort. Ein kleiner Schritt für Pelewin, und aus dem legendären säbelschwingenden Helden wird im Roman ein buddhistischer Meister, der die russische folkloristische Szene um eine weitere Figur bereichert.

Unerschrocken verfährt Pelewin nicht nur mit seinem historischen Personal. Sein Roman verbindet scheinbar mühelos unterschiedliche Gattungen und Genres wie Seifenoper, Hollywood-Thriller und Gesellschaftskritik. So ist Pjotr nicht nur Protagonist aus den vergangenen Zeiten, als russische Kämpen noch durch die Steppen ritten, Pjotr ist auch der Insasse einer Irrenanstalt Dostojewskischen Ausmaßes, und zwar im Russland der Gegenwart. Dort herrscht der berüchtigte Professor Kanaschnikow, der mit seiner als Psychotherapie getarnten Hirnwäsche für eine neue Ideologie, die des "oligarchischen Konsumismus", ins Feld zieht.

In den halluzinatorischen Wach-Träumen der Irren spiegelt sich der aktualisierte Mythos wider, der vom Neuen Russen. Dieser fährt schon längst nicht mehr mit seiner vierspännigen Kalesche durch das revolutionäre Moskau, sondern feiert sich selbst als Reinkarnation des Muskelprotzes, Mercedes-Besitzers und Modegecks. Aus der "alchemistischen Ehe" mit dem österreichisch-amerikanischen Superstar Arnold Schwarzenegger und dem (hermaphroditisch angehauchten) Russen Maria wird der vielversprechende Sprössling entspringen, auf den die neue, konsumgierige Gesellschaft all ihre Hoffnung setzt: "Ein junger Mann mit kleinem Schädel und kräftigen Schultern, der einen himbeerroten Zweireiher trug, breitbeinig dastand, vor einem Wagen von langer, niedriger Bauart." Orientierung am Westen? Nicht nur das, auch Japan spielt eine Rolle, mit dem ebenfalls die "alchemistische Ehe" vollzogen wird, aus der ein sturzbetrunkener Samurai hervorgeht.

Die "alchemistische Ehe" wird zur alles ermöglichenden Dialektik des Neuen Russen und bildet doch nur die Chiffre einer Kultur, die unermüdlich ihre Mythen produziert und diese zugleich wieder dekonstruiert. So erzählt Pelewin von einer Spionagegruppe, die Witze aus aller Welt sammelt und sie auf das Paar Tschapajew und Pjotr umschreibt: "Das sind die durchtriebensten Formen der ideologischen Aggression: Scherz und Ironie."

Ein Riesendepot geheimes Gelächter habe der Volksmund parat, meint Pelewin und schreibt sich mit seinem Roman in die Theorie Michail Bachtins vom "literarischen Karneval" ein. Denn "wenigstens einmal täglich für Sekunden der Hässlichkeit der Welt durch Lachen zu entrinnen", sei das Lebenselixier dieser Gesellschaft. Mit rücksichtsloser Ironie fährt Pelewin immer wieder harte Geschütze gegen die strahlenden Ikonen der russischen Helden-Mythologie auf: Um die Entlassung aus dem Irrenhaus zu erwirken, muss Pjotr Fragen zur russischen Geschichte im Multiple-Choice-Verfahren beantworten. Was aber tun, wenn die vorgeschriebenen Antworten allesamt falsch und unsinnig sind?: "Auf welches Objekt schoss der Kreuzer 'Aurora'? a) auf den Reichstag, b) auf den Panzerkreuzer Potjomkin, c) auf das Weiße Haus, d) Die vom Weißen Haus haben angefangen".

Die Mythen wuchern, und mit jedem abgeschlagenen Kopf entstehen sieben weitere: "So kommt es, dass der frühzeitliche Mythos vom Feldkommandeur sich am Leben erhalten hat - nur dass letzterer nicht mehr in der Tatschanka durch die Steppe fegt, sondern mit dem 600er Mercedes durchstartet: von der Bank geradwegs ins Nirwana."

Viktor Pelewin: Buddhas kleiner Finger. Volk und Welt, Berlin 1999, 422 S., DM 46