Im Boxring gefangen

Über Spannung, Dynamik und Höhepunkte des Faustkampfes. Ein Grundkurs.

Zehn Tage ist es her, da verkündete ein von seiner im doppelten Sinne letzten Niederlage ernüchterter Axel Schulz seinen Rücktritt vom Boxsport. Wladimir Klitschko hatte seine Überlegenheit augenfällig demonstriert - praktisch und symbolisch richtete er Schulz eher hin, als dass er ihn einfach nur besiegte. Schulz musste, ob er wollte oder nicht, seine Handschuhe an den Nagel hängen. Und Klitschko? Wird wohl Weltmeister.

Boxen bedeutet für den einen eine "Regression ins phantasierte Urtümliche" (Reemtsma), ein anderer hält es für dumpfe Keilerei, ein Dritter schreibt dem Boxkampf die Qualitäten des galanten Fechtens zu. Alles richtig und alles falsch. Etwas anderes aber ist mit Sicherheit wahr: Unter jenen im europäischen und anglo-amerikanischen Raum verbreiteten Wettkampfarten mit ausgesprochenem Kampf-Charakter ist das Boxen eine der bekanntesten. Es ist uns schon deshalb nah - ob es uns nun passt oder nicht -, da kämpferisches Können in vielen Kulturen und Subkulturen den Status unter Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu klären erlaubt.

Der Faustkampf ist nach wie vor eine anerkannte Weise, Feindschaft auszudrücken und gegebenenfalls Streitigkeiten zu beenden. Der im Boxring stattfindende Kampf weicht von dieser alltäglichen Konfliktaustragungsform jedoch beträchtlich ab. Niemand will hier eine Unstimmigkeit aus der Welt verbannen; Ziel ist es, sich in einem geregelten Kampf mit dem Gegner zu messen: Boxen ist "klassischer Agon" (Roger Caillois).

Das meiste historische Material über den Faustkampf ist uns aus der griechisch-römischen Geschichte überliefert. Seit den 23. Olympischen Spielen 688 v. u. Z. war der Kampf Bestandteil des olympischen Wettkampfprogramms. In der demokratischen Polis fand das Boxen breite Zustimmung; die Sieger der Kämpfe wurden als Helden verehrt. Bei den Römern hingegen waren Sklaven, Gladiatoren und Profis die Aktiven. "Spiele" wurden veranstaltet, um die Gunst der Massen zu gewinnen, um ihre Schaulust zu befriedigen. Auf der Tagesordnung stand hier das blutige Spektakel: Im Rahmen von Schau- oder Massenwettkämpfen setzte man mitunter sogar Metallbuckel auf die Handschuhe, um die Resultate der Schlagkraft zu potenzieren.

Was lässt sich noch übers Boxen sagen, zum Geschehen selbst und zum Ort, an dem es stattfindet? Zunächst ist da der Ring. Einst war er rund, daher sein Name. Seine Flächenmaße und Begrenzungsformen folgen einer strategischen Intention: Er ist genau von der Größe, die ein spannungsreiches Interagieren der Wettstreitenden gestattet. Nicht zu groß und nicht zu klein, bindet er die Boxer gewissermaßen aneinander und veranlasst durch seine Größe die Akteure zu permanenten Aktionen. Gleichzeitig gestattet er den Boxern genug Raum zur Entfaltung ihrer Bewegungen. Durch seine Begrenzung mit Seilen macht er das Entkommen aus einer Kaskade von Schlägen nur schwer möglich - Boxer sind Gefangene des Boxrings. Der Ring selbst ordnet den Rest des Geschehens um seine Mitte und ist so zugleich Mittelpunkt des Geschehens wie räumlicher Mittelpunkt.

Für den Boxer gilt eine Maxime christlichen Ursprungs: Geben ist seliger denn Nehmen. Er will nicht nur das Geschehen bestimmen und es als Sieger beenden. Man wünscht, den Gegner auf die Bretter zu schicken; die Struktur des Boxkampfes selbst ist Grundlage für diesen Wunsch: Es sind die Faustschläge an den Kopf des Gegners, vor allem an die Kinnspitze und die Schläfen, Schläge, die meist eine eindeutige Punktwertung ermöglichen, da sie die deutlichsten Resultate zeitigen.

Die Dynamik, das permanente Hin und Her - das übrigens auch zentrales Merkmal einer Reihe anderer Wettkampf-Sportarten ist - des Boxkampfes ergibt sich unter anderem aus einer ganzen Reihe verschiedenartiger Angriffs- und Verteidigungshandlungen. Der Angriff zielt auf den Sieg, und der Gegner selbst ist das direkte Ziel dieser Handlungen. Generell verläuft der Angriff in der Vorwärtsbewegung. In ausgewogenen Kämpfen kommt hinzu, dass die Boxer sekundenschnell ihre Rollen tauschen: Der Angreifer wird zum Verteidiger und umgekehrt.

So schnell und plötzlich er begann, so plötzlich ist der Angriff auch beendet. Der Verteidiger ergreift nun seine Chance und wird seinerseits zum Angreifer. Auf den Kampf zwischen Schulz und Klitschko traf das nur selten zu, dafür aber etwas anderes, ebenfalls häufiger zu Beobachtendes: Schulz wird wegen der Schläge, die er einstecken muss, mit hoher Wahrscheinlichkeit starke Schmerzen empfinden, kann aber nicht weiter zurückweichen. Er hat als völlig unterlegener Gegner kaum noch Mittel, sich, wenigstens für ein paar Sekunden, aus der Bedrängnis zu befreien.

Eines der letzten, von Schulz dann auch tatsächlich realisierten Mittel, besteht im verzweifelten Gegenangriff, der meist an jenem Punkt entsteht, an dem die Effektivität der eigenen Verteidigung schwindet. Zeichnet sich der Boxkampf anfangs dadurch aus, dass die Boxer sich in einem Zustand äußerster Frische, Wachheit und Vorsicht befinden, in einem "Zustand eines fast überspannten Bewußtseins von der Situation und vom Gegner" (Oates), in den man sich erst noch hineinfühlen muss, so gilt davon im letzten Drittel des Kampfes fast nichts mehr. Die Beine beginnen zu schmerzen, die Fäuste schnellen nicht mehr in die Richtung des Gegners; Kopf und Körper tragen die Spuren der Gewalt. Man ist viel verwundbarer und hofft, gerade wenn man weit zurückliegt, der Kampf möge endlich zu Ende gehen - oder auf ein Wunder. Schulz mag dankbar für den vorzeitigen Abbruch des Kampfes gewesen sein.

Wie steht's um die Spannung und die Höhepunkte im Boxen, insbesondere im Profiboxen? In nahezu jedem Boxkampf kommt es zu Phasen, die als besonders spannungsvoll und dramatisch erlebt werden. Der Höhepunkt des Geschehens schlechthin ist der Knock-out, auf den die Dramaturgie des Boxkampfes zugespitzt ist. Er ist gleichermaßen radikal wie selten, und er beendet abrupt das Kampfgeschehen. Boxer und Zuschauer wissen zwar, über wie viele Runden der Kampf gehen soll, doch ergibt sich die besondere Spannung des Boxkampfes durch die Möglichkeit seines plötzlichen Endes, des symbolischen Todes eines Boxers. Der Knock-out unterhöhlt das Prinzip des definierten Zeitpunktes, auf den hin das Geschehen eigentlich ablaufen soll. Er ist permanent möglich, aber nicht notwendig und schafft so die typische Unwägbarkeit des Boxens, die seine Faszination zum Teil erklärbar macht.

Boxer, sofern ihre Schlagkraft es zulässt, zielen auf den Knock-out, da er den Gegner denkbar schlecht aussehen lässt und einmal mehr demonstriert, worum es beim Boxen geht: um Erfolg, Anerkennung Ruhm und Geld. Der häufig realisierte Knock-out bestimmt das Weiterkommen eines Boxers maßgeblich mit. Veranstalter und Publikum lieben denjenigen, der einen so genannten harten Wumms hat, ungleich mehr als den, der nur nach Punkten gewinnt.

Darum wurde Schulz nie wirklich als Boxer geliebt. Klitschko hat gute Chancen, zum absoluten Publikumsliebling zu werden. Worauf sich allerdings Henry Maskes Beliebtheit gründet(e), ist mir bis heute ein Rätsel.