Mehr Kampf als Wahl

Noch immer wird in Indien gewählt. In einem Punkt ist sich die Graswurzel-Bewegung schon jetzt mit der Regierung einig - alles Böse kommt von außen.

Das Wahl-Prozedere in Indien wird immer blutiger. Über 90 Menschen verloren in den letzten fünf Wochen bei Auseinandersetzungen verfeindeter politischer Strömungen das Leben, 30 davon allein am vergangenen Wochenende. Die Konflikte haben zugenommen, seit die Umfragen nach den bisherigen Wahlgängen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP (Bharatiya Janata Party), ihren Koalitionspartnern einerseits und andererseits der sich als Nachlass-Verwalterin des Staatsgründers Mahatma Gandhi gerierenden Kongresspartei voraussagen. Mitte November soll sich das neue Parlament konstituieren, die Wahlbeteiligung lag bislang nach Schätzungen bei etwa 50 Prozent.

In der grundsätzlichen "Modernisierung" des Landes herrscht zwischen den rivalisierenden Flügeln des politischen Establishments grundsätzliche Einigkeit. Seit Mitte der neunziger Jahre wird der Energiesektor mit ausländischem Kapital erneuert - teilweise gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung. Am vorvergangenen Freitag startete das erste Atomkraftwerk Made in India in Kaiga im Unionsstaat Karnataka einen Testlauf. Zehn AKW gibt es in Indien mittlerweile, die militärische Nutzung für die Atombombenproduktion funktioniert ebenfalls. Zudem boomt die Kommunikationstechnologie. Der High-Tech-Schub kommt jedoch nur einer kleinen Schicht zugute. Für einige Hundert Millionen indischer Bürger stellt die Versorgung mit sauberem Trinkwasser noch immer ein Problem dar.

Nach den neuesten Umfragen werden der BJP bei den Wahlen die besten Chancen eingeräumt. Noch vor einigen Monaten galt die Kongresspartei als Favoritin, nachdem es ihrer Spitzenkandidatin Sonja Gandhi gelungen schien, der nach ihrer Wahlniederlage in Apathie und Flügelkämpfen versunkenen Partei wieder Kampfesmut zu geben. Doch Sonja Gandhis italienische Herkunft gab den Hindu-Nationalisten die Gelegenheit, ganz auf die rassistische Karte zu setzen. "Eine Ausländerin darf Indien nicht führen" - mit dieser Parole konnte die BJP wieder an ihren völkischen Grundlagen anknüpfen. Entstand sie doch aus der 1925 gegründeten hindunationalistischen Bewegung Rashtriya Swajamsevak Sangh (RSS), die in den dreißiger Jahren mit dem europäischen Faschismus sympathisierte und die Herrschaft der "arischen Hindu-Rasse" in Indien propagiert.

Die 1980 gegründete BJP hatte diese Forderungen moderater formuliert in ihr Programm übernommen. Ihr Slogan lautete: Eine Nation, ein Volk, eine Kultur. Noch 1993 setzten Stoßtrupps der Partei in Bombay Häuser und Geschäfte von Moslems in Brand. Heute ist die BJP in dieser Stadt Teil des rechten Parteienbündnisses, das den erklärten Rassisten und Hitler-Anhängers Bal Thackeray als Bürgermeister stützt.

In der indischen Regierung hingegen musste die BJP im Bündnis mit einem halben Dutzend heterogener Klientelparteien viele Kompromisse schließen. Vor allem eines ihrer Prestige-Objekte, der Neubau eines Hindu-Tempels an Stelle einer von Hindu-Fanatikern zerstörten Moschee in Ayodhya, wurde vertagt. Mittlerweile hat sich die Partei mit ihrem neoliberalen Wirtschaftskurs bei der kleinen Schicht der wirtschaftlichen Aufsteiger Vertrauen erworben, gibt sie sich doch in der indischen Öffentlichkeit als rechtskonservative Partei und Garant des freien Unternehmertums aus. Was aber BJP-Funktionäre der mittleren Ebene nicht daran hindert, Kampagnen gegen Moslems in mehreren indischen Städten anzuzetteln.

Mit ihrer völkischen Kampagne gegen Sonja Gandhi und den moslemischen Erbfeind Pakistan im Kaschmir-Konflikt konnte die BJP ihre Reihen wieder schließen. Doch die Ablehnung alles Fremden ist in Indien längst nicht nur auf die Rechte beschränkt. So mussten erst vor wenigen Wochen prominente Politiker der Kongreß-Partei von ihren Ämtern zurücktreten, weil sie sich der Kampagne gegen Sonja Gandhi angeschlossen hatten und sich dabei gar auf Mahatma Gandhi beriefen. Der habe sich schließlich immer gegen ausländische Einflüsse gewehrt. Das sehen auch die in Indien im letzten Jahrzehnt sprunghaft angewachsenen sozialen Bewegungen ähnlich, die in der Regel die Weltbank und Welthandelsorganisation WTO für alle Probleme in Indien verantwortlich machen.

Veena Surana hat noch mit Gandhi in der Unabhängigkeitsbewegung gekämpft und propagiert als Organisator der Karnataka Rayka Ryota Sangha (KRRS), der Vereinigung der Bauern der Provinz Karnataka, noch immer dessen Ideen. Die 1981 gegründete Organisation zählt heute zehn Millionen Mitglieder und ist auch im Ausland recht bekannt. Dafür sorgt schon ihr charismatischer Präsident Nanjundaswamy, von seinen Anhängern liebevoll Swamy genannt.

Nicht nur ausländischen Besuchern fällt seine dominierende Rolle in der KRRS auf, die für sich absolute Basisdemokratie beansprucht. "Die Konsensfindung in der Organisation läuft von unten nach oben. Wenn es Entscheidungsbedarf gibt, beraten sich erst die Dorfkomitees, dann die Provinzkomitees und zum Schluss das oberste Landeskomitee. Die Delegierten, die in das nächsthöhere Organ bestimmt werden, sind ihrer Basis rechenschaftspflichtig und können jederzeit ausgetauscht werden. Vorstände oder andere Gremien gibt es bei der KRRS nicht", skizziert Surana das Modell einer scheinbar idealtypischen Basisdemokratie, benennt aber gleich deren Grenzen. "Bei grundlegenden Differenzen werden die unterschiedlichen Positionen ausführlich dargestellt. Kommt es zu keinem Konsens, entscheidet Swamy unter Berücksichtigung aller Argumente." Das letzte Wort hat also im Zweifelsfall doch der Präsident.

Ganz in der Tradition von Gandhi setzt die KRRS auf Gesetzesübertretungen und zivilen Ungehorsam. Während dabei die Gefährdung von Personen abgelehnt wird, gehört Gewalt gegen Sachen durchaus zum Repertoire der Aktivisten. Häufig wurden Filialen des Saatgutkonzerns Monsanto demoliert und Versuchsfelder mit genmanipulierten Pflanzen zerstört. Auch McDonald's-Filialen und Likör-Shops gehören zu den anschlagsrelevanten Zielen. Vor allem die KRRS-Frauen dringen häufig in die Läden ein und verschütten sämtliche Spirituosen. Damit soll verhindert werden, dass die Männer ihre Rupien in Alkohol anlegen und in betrunkenem Zustand ihre Familie terrorisieren. Doch die Aktionen der KRRS-Frauengruppen lassen sich nicht auf Anti-Alkohol-Kampagnen reduzieren. Seit Jahren mobilisieren sie gegen die Tradition des Brautgelds und die alljährlich stattfindende Wahl der Miss Universum. "Wir protestieren damit gegen ein vom Westen oktroyiertes Frauenbild", meint die Aktivistin Paanalal Shugar.

Der Kampf gegen den ausländischen Einfluss, der sich für sie in multinationalen Konzernen, aber auch in westlicher Kultur manifestiert, ist ein einigendes Band der indischen Graswurzel-Bewegung. Viele berufen sich auf Gandhis "Swadeshi".

Nach diesem Konzept einer einfachen Lebensführung im Einklang mit der Natur sollen die Menschen in überschaubaren dörflichen Lebenszusammenhängen wohnen, sich von einheimischen Pflanzen ernähren und selbstgefertigte Kleidung, deren Material selbstverständlich ebenfalls aus Indien kommen soll, tragen. "Das wahre Indien findet sich nicht in den wenigen Städten, sondern in den unzähligen Dörfern" - dieses Credo des Swadeshi-Programms hält der KRRS-Organisator Surana nach wie vor für gültig. Auch wenn er zugeben muss, dass zumindest ein Großteil der städtischen Jugend mehr auf US-amerikanische Markenware als auf heimische Produkte steht.

Doch nicht alle politischen Graswurzel-Gruppen Indiens sind so überzeugte Swadeshi-Anhänger wie Surana und die KRRS. So haben die Kader des All India Peoples Resistance Forum (AIPRF) ihren politischen Background unverkennbar im Maoismus, wenn sie auch viele ihrer politischen Erklärungen mit Gandhi-Sprüchen aufpeppen. Sie unterstützen arme Bauern im Kampf gegen die Großgrundbesitzer ebenso wie die Dalits im Kampf gegen das indische Kastensystem. Die Dalits, die in Indien mit dem herabsetzenden Begriff "Unberührbare" benannt werden, stehen auch über 50 Jahre nach der indischen Staatsgründung noch immer auf der untersten Stufe der indischen Gesellschaft und sind zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt. Die meisten von ihnen sind Christen und vertreten eine indische Variante der Theologie der Befreiung, die mit maoistischen Theorie-Elementen koexistiert.

Der Soziologe Martin Fuchs vergleicht die Situation der Dalits mit den Lebensverhältnissen der Afro-Amerikaner in den USA der fünfziger Jahre. Die kämpferischen Organisationen agieren nach der Analyse von Fuchs wie die Black Panther. Tatsächlich sind auch die Dalits kein homogener Block. Während einzelne in den Städten Karriere machen und als Aushängeschilder für das "indische Erfolgsmodell" von allen Parteien umworben werden, lebt die übergroße Mehrheit weiterhin unter quasi-feudalen Verhältnissen auf dem Lande.

Der Staat reagiert auf die Kämpfe der Dalits und das AIPRF vor allem in den ländlichen Regionen mit offener Repression. Bei Landbesetzungen gibt es immer wieder Tote. Zahlreiche politische Aktivisten sind spurlos verschwunden. Häufig sind auch der Subversion beschuldigte christliche Missionare Ziel der Angriffe.

Von den Wahlen erhofft sich in der indischen Graswurzel-Bewegung kaum jemand etwas. Die Dalit-Aktivistin Vanada Phallaga spricht mit ihrer Einschätzung für die meisten Grassroot-Aktivisten: "Im Wahlkampf scheinen die Kandidaten plötzlich zu entdecken, dass es uns auch noch gibt. Doch in Wirklichkeit interessieren die uns überhaupt nicht, und auch wir haben an dem parlamentarischen Theater kein Interesse."