Uns zu ihm und ihm zu uns

Mit Günter Grass holt ein unsicherer Kantonist den Nobelpreis für Literatur nach Deutschland. Das Feuilleton trommelt dennoch und freut sich über das Surplus an nationaler Identität.

Nachdem bekannt wurde, Günter Grass werde heuer den Nobelpreis für Literatur erhalten, setzte eine merkwürdig entspannte, aber doch rege Betriebsamkeit ein. Abweichend von den üblichen Gepflogenheiten wurden keine offenen Rechnungen beglichen und keine kulturbeflissenen Mäkeleien laut. Stattdessen fügten sich die Befunde des Kulturbetriebes ganz zwanglos in ein Kommuniqué ein, das dem Preisträger mit generöser Versöhnungsbereitschaft signalisierte, trotz aller gegenseitigen Missverständnisse habe er stets im Dienst einer ehrenwerten Sache gestanden. Für die allgemeine Genugtuung darüber, dass die Stockholmer Akademie den ewigen Kandidaten nun endlich bedacht hat, fand Martin Walser die passenden Worte: "Das war fällig, wir haben lange darauf gewartet."

Weil so viele mitgewartet haben, ist Grass lediglich Empfänger einer Ehre, die mehr als den Einzelnen adelt: "Ich finde es eine tolle Nachricht für Günter Grass und auch für Deutschland und die Deutschen." (Peter Schneider) "Wem das Schicksal unserer Nachkriegsliteratur, wem - ein wenig pathetisch formuliert - der Rang deutscher Sprache und deutscher Kultur nicht völlig gleichgültig ist, dem drängt sich nun ein Gefühl der Genugtuung auf." (Joachim Kaiser)

"Ja, ich finde, es ist eine Anerkennung für uns alle, denn die Literatur unseres Landes ist nicht, wie von ihren Gegnern behauptet wird, langweilig, verächtlich und blutleer." (Egon Bahr) "Deshalb freue ich mich über diesen Preis, auf den wir alle stolz sein dürfen." (Volker Schlöndorff)

"Wenn es so etwas wie eine nationale Identität gibt (...), dann haben 'wir Deutschen' heute allen Grund, stolz zu sein, uns zumindest zu freuen, dass Günter Grass so hoch ausgezeichnet worden ist." (Hellmuth Karasek) Der Bundeskanzler dankte Grass für die "Vertiefung und Vergewisserung unseres kulturellen Erbes - und damit unserer kulturellen Identität", Bild sparte sich alle Schnörkel: "Ritterschlag für die deutsche Literatur!"

Die Aufwallung nationalen Hochgefühls geht aus von der Ehrung für einen, der in den tonangebenden politischen und kulturellen Kreisen vor zwei Wochen noch einen eher beschädigten Ruf hatte. Grass, dem zu Wirtschaftswunderzeiten als "Pornograph" und "Kommunist" die ideelle Ausbürgerung angedroht worden war, galt auch später stets als die personifizierte politische Unzuverlässigkeit. 1993 aus Protest gegen die drastische Beschneidung des Asylrechts aus der SPD ausgetreten, nannte er 1997 in einer Preisrede die Abschiebepraxis der Kohl-Regierung eine "abermalige, diesmal demokratisch abgesicherte Barbarei"; gegen die Vereinigung von BRD und DDR war er u. a. mit dem Argument angetreten, die Teilung Deutschlands sei die gerechte Strafe für die Verbrechen der Deutschen.

Auch literarisch galt Grass vielen als abgehalfterte Existenz. Die aktuelle Lobhudelei ist daher oft mit dem dezenten Hinweis garniert, Grass habe nach seinem großartigen Romanerstling "Die Blechtrommel" (1959) kaum noch etwas Lesenswertes zu Stande bekommen. Ein "One-Work-Author" (Hellmuth Karasek), dessen spätere Bücher etwas "penetrant Belehrendes" (taz) hatten. "Was er danach an Literatur hervorbrachte, beschreibt eine erst langsame, dann immer steiler abfallende Kurve." (FAZ) Die meisten Kommentare behelfen sich in Fragen der literarischen Qualitäten des Preisträgers mit dem Hinweis, auch andere Autoren, etwa Thomas Mann, seien erst viele Jahre nach ihren Höchstleistungen mit der Nobel-Ehrung bedacht worden.

Die äußerst wohlwollende Entsorgung literarischer Fragen ist aber nicht allein dem allgemein konstatierten Mangel an frischeren schriftstellerischen Vorzeigestücken geschuldet, sondern der Tatsache, dass Grass sich selbst als eine Autorität stilisiert, die in allen öffentlichen Fragen von Belang gehört werden will. Dieser beinah schon manische Anspruch wird in den Statements zur Preisverleihung durchweg als Katalog demokratischer Bürgertugenden gespiegelt: Grass als "eifriger und eifernder gesellschaftskritischer Mahner" (Joachim Kaiser), Grass "als Mahner unumstritten" (Bild), Grass im "Einsatz für Bürgerrechte und soziale Gerechtigkeit" (Gerhard Schröder), Grass auf der "Seite der Studentenbewegung" (Kerstin Müller, Rezzo Schlauch), Grass als "Prototyp des sich einmischenden Intellektuellen" (Helmut Böttiger, FR), Grass "solidarisch mit Minderheiten" (György Konrad), Grass, immer bereit, "seinen Widerspruch gegen die bestehenden Verhältnisse in der Welt hinauszudonnern" (SZ), Grass als "öffentliche Figur des Widerstands" (FAZ). Selbst wenn Grass ein Überschuss an "Sendungsbewusstsein" (Welt) oder die Qualitäten einer "Nervensäge" (SZ) zugeschrieben werden, bleibt der Spott im Verweis auf die großen Verdienste des Autors mild.

Eine fast unheimliche Einmütigkeit: Grass habe vor rund 40 Jahren ein bis drei gute Bücher veröffentlicht, danach habe er seinen Ruhm benutzt, überall nützliche Frechheiten abzusondern, dafür erhalte er zu Recht einen Nobelpreis, der alle Deutschen mit Stolz erfüllen müsse. Da es aber hierzulande keineswegs selbstverständlich ist, fortgesetzte Rotzereien gegen die Führung der Staatsgeschäfte auch nur anzuhören, wird im Kommuniqué per Fußnote darauf hingewiesen, warum Grass trotz alledem ertragen werden muss: "Bei keinem deutschen Autor unterscheiden sich die Wahrnehmungen im Inland so sehr von denen im Ausland wie bei Günter Grass." (FAZ) "Zweifellos ist Günter Grass im Ausland der populärste lebende deutsche Nachkriegsschriftsteller." (Welt)

Deshalb ist er "- man muss es mit einem gewissen Zynismus sagen - durchaus ein Plus für Deutschland. Nach dem burschikosen Hauruckstil, der sich seit der Machtübernahme Gerhard Schröders in deutsche Stellungnahmen gegenüber dem Ausland eingeschlichen hatte, wird jetzt auf internationaler Bühne ein Autor geehrt, der ein Deutschland repräsentiert, mit dem man überall problemlos leben kann." (Welt)

Eine zweifellos richtige Einschätzung, die auch für einen weiter gesteckten historischen Horizont gelten kann: "Deutschland", so Karasek im Tagesspiegel, "war der Resonanzboden, auf dem er, aus dem er getrommelt hat. Und er, Grass, war der Autor, der uns - mit einem gewaltigen Wurf - weltweit Resonanz verschafft hat, Resonanz für ein Deutschland, das sich auf einmal ganz anders anhörte, als es den Völkern nach dem Zweiten Weltkrieg in den Ohren klang." Kurz und in den Worten des Schriftstellers Peter Schneider: Grass hat "die deutsche Vergangenheit zu seinem Thema gemacht, er hat damit die Deutschen in eine neue Umlaufbahn geschossen".

Dass er durch die Auszeichnung eher als großer Deutscher denn als großer Dichter dasteht, wird Grass nicht unbedingt freuen, verdient hat er es allemal.

Sein nicht selten im Jargon linksradikaler Opposition vorgetragenes Gepolter gegen den neoliberalen, konservativen oder sozialdemokratischen Mainstream hat linksradikalen Opponenten zwar bisweilen das Gefühl einer prominenten Repräsentanz vermittelt, folgte aber durchweg dem Muster einer subversiv bemäntelten Affirmation. Diejenigen, die dieses Muster zu ihrer Philosophie gemacht hatten, waren die Jungsozialisten der siebziger und achtziger Jahre, ihren Habitus, ihr gesellschaftskritisches Potential trägt der fast 72jährige Grass weiter durch die Landschaft: Sein Austritt aus der SPD anlässlich der Grundgesetzänderung in Sachen Asylrecht war eine Geste des Nicht-Einverstandenseins, kein Ausstieg aus dem sozialdemokratischen Deutschland-Projekt. Kurz vor der letzten Bundestagswahl sagte er der Bild am Sonntag: "Wer den Wechsel will, der sollte seine Stimmkraft auf Rot-Grün konzentrieren."

Ähnlich unappetitlich klingt - nicht nur angesichts ihrer Anlehnung an den Gegensatz von schaffendem und raffendem Kapital - Grass' aktuelle Kritik an der Marktwirtschaft: "Es ist ja nicht mehr der Kapitalismus vitaler Art, den man, soweit er sich zivilisieren lässt, durchaus akzeptieren kann. Es ist kein Kapitalismus mehr, der investiert, sondern diese Gelder ins Ausland schafft, dann kreisen sie um den Erdball und sind ein Drohinstrument", sagte er 1997. Diese Analyse ist so radikal wie der "Verfassungspatriotismus", den Grass unter Berufung auf Jürgen Habermas lange und grimmig hochgehalten hatte. Er endete vor Pristina, und seine Zustimmung zum grundgesetzbrechenden Bundeswehreinsatz begründete der Dichter so verschwurbelt wie Rudolf Scharping und Co.: "Also entschied ich mich für den militärischen Einsatz, obgleich ich wußte, daß er (...) den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr mißachtete. (...) Ich sprang über meinen Schatten, nein, ich versuchte mich darin, natürlich vergeblich. (...) Denn schon bald (...) holten mich alle übersprungenen Bedenken ein, um abermals, nach bloßem Rückblick auf über 200 000 im Verlauf 'ethnischer Säuberungen' Ermordeter, nichtig zu werden. Für kurze Zeit nur. Denn wieder und wieder suchte ich Zuflucht bei allem, was gegen den Krieg sprach."

Der Dichter fand keine rechte Zuflucht, aber er ist eine geblieben: für alle Bedenken und Zweifel, die den Fortschritt Deutschlands veredeln. Deshalb hat Hellmuth Karasek völlig Recht: "Und wenn es stimmt, dass nationale Identität neben der Geschichte vor allem durch Sprache und Dichtung gestiftet wird, dann haben wir einen doppelten Grund, Günter Grass zu beglückwünschen: Uns zu ihm und ihm zu uns."