Viel Platz im Strandbad

50 Jahre Volksrepublik China - die Staatsführung feiert sich mit einer riesigen Armee- und Propaganda-Show. Doch nicht überall will gute Stimmung aufkommen.
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Demonstrierende Studenten mit Transparenten auf dem Tiananmen-Platz? Nix da. Zehn Jahre nach der Niederschlagung der Demokratie-Bewegung feierte die Volksrepublik China am vergangenen Freitag ihren 50. Geburtstag. Eine gigantische Militärparade mit Panzern, Raketen, Fliegereinheiten, dahinter bunt geschmückte Paradewagen und am Abend ein großes Feuerwerk - über 500 000 Menschen waren an diesem Massenspektakel beteiligt. "Lang lebe das Vaterland, lang lebe die Kommunistische Partei" lautete das Motto des Tages. Entsprechend heroisch war die größte Propaganda-Show Chinas seit dem Ende der Mao-Ära.

Seit Monaten wurde die chinesische Hauptstadt für diesen Tag auf Hochglanz getrimmt. Autobahnen, Wolkenkratzer, neue Einkaufsstraßen, U-Bahn-Linien, ein neuer Flughafen - zahlreiche Großprojekte mussten pünktlich zum 1. Oktober fertig gestellt sein. Wochenlang herrschte in Peking der Ausnahmezustand: Straßenkontrollen an jeder Ecke, Industrieanlagen mussten schließen, Lastwagen wurden aus der Stadt verbannt, Menschen, die keine Aufenthaltsgenehmigung für Peking besaßen, aus der Stadt gewiesen.

Denn aus Sicht der Behörden passen die rund drei Millionen Wanderarbeiter, die es in Peking gibt, nicht ins Stadtbild, sind sie doch ein Zeichen dafür, dass mit dem propagierten "Sozialismus chinesischer Prägung" etwas schief gelaufen sein muss. "Wer keinen Ausweis bei sich hatte, wurde von der Staatssicherheit in ein Lager gebracht. Dort muss so lange gearbeitet werden, bis man sich ein Ticket in sein Heimatdorf leisten kann", erzählte der Obstverkäufer Liu Cheng aus der Provinz Anhui.

Nichts durfte daneben gehen. Für die Kommunistische Partei war der 1. Oktober der große Tag, ihren unangefochtenen Machtanspruch zur Schau zu stellen. Das Vertrauen der Bevölkerung besitzt sie schon lange nicht mehr - 50 Jahre nach Gründung der Volksrepublik hat die KPCh kaum noch etwas zu bieten. Kapitalismus auf der einen Seite, diktatorische Führung auf der anderen, dazwischen Phrasen von Solidarität und Sozialismus. Alles Widersprüche, auf die auch die Parteiführung keine Erklärungen sucht, sondern nur mit Repression antwortet.

Mit eiserner Hand unterdrückt sie jede Organisation, die zu einer politischen Bedrohung werden könnte. So wurden allein in der vergangenen Woche bei einer Massenexekution in der Provinz Hunan über 1 000 Menschen umgebracht. Mehr als ein Dutzend politischer Oppositioneller sind seit Wochen eingesperrt.

Doch der Feind sitzt auch in den eigenen Reihen. Korrupte Partei-Kader in den Provinzen ziehen willkürlich Steuern ein und überweisen das Geld auf ihr Privatkonto. "Es wird immer schwieriger, die lokalen Führer im Zaum zu halten", gestand Staatspräsident Jiang Zemin in der Tageszeitung Renminribao. "Die öffentliche Ordnung ist in einigen Regionen nicht zufrieden stellend. Aberglaube, Feudalismus und das Patriarchat sind in diesen Regionen wieder auf dem Vormarsch und müssen gestoppt werden."

Schon sehen viele in diesen Äußerungen ein Zeichen für die Besorgnis der chinesischen Führung über einen drohenden Machtverlust in den ländlichen Regionen, in denen rund 800 Millionen Chinesen leben. Und auch bei dem Stichwort "Aberglaube" weiß jeder, was gemeint ist. Zwar hat die Pekinger Staatsführung die Kampagne gegen die Falungong-Sekte Anfang September für beendet erklärt, der Schrecken sitzt dennoch tief. Gegenüber Jungle World erklärte Zhao Shaouhua, Mitarbeiterin im Informationsministerium: "Nicht die Sekte an sich ist beängstigend, erst der hohe Organisationsgrad, die große Anzahl der Mitglieder, vor allem aber die Überschneidungen von ranghohen Parteimitgliedern mit der Falungong haben das harte Vorgehen nötig gemacht."

Der 50. Jahrestag der Volksrepublik fiel auf einen Zeitpunkt, der nicht zum Feiern ermuntert. Im Nordwesten, wo das meiste Getreide des Landes angebaut wird, erlebt man derzeit einen der trockensten Sommer. Bis zu 80 Prozent weniger Regen fiel in diesem Jahr, bei Temperaturen von über 40 Grad - Hunderte von Weizenfeldern sind verdorrt. "Der Wintervorrat ist bedrohlich knapp", gab auch der Minister für Wasser- und Landwirtschaft zu. Hinzu kamen Überschwemmungen an den Ufern des Yangtse-Flusses,bei denen mehr als 1 000 Menschen starben.

Und auch die Wirtschaftsdaten lassen sich nicht länger beschönigen: China steckt in einer Deflation. Seit 20 Monaten fallen in China die Preise, zuletzt um 3,5 Prozent. Der Preisverfall zeugt von horrenden Überkapazitäten und Überinvestitionen. Zum Beispiel in der chinesischen Textilindustrie: Rund 46 Millionen Spindeln gibt es im Land - nach Ansicht der Regierung zehn Millionen zu viel. Aus diesem Grund sollen die überschüssigen Spindeln nun aus dem Verkehr gezogen werden, die Hälfte noch in diesem Jahr. 600 000 Textilarbeiter haben bereits in diesem Sommer ihren Arbeitsplatz verloren. Ähnlich sieht es in vielen Branchen aus.

Auch der Export kann die mangelnde Inlandsnachfrage nicht kompensieren. Produkte aus Thailand, Malaysia und Indonesien sind nach den Abwertungen durch die Asien-Krise billiger. Die chinesische Regierung weigerte sich, diesen Schritt zu gehen. Sie beteuerte, dass China nicht von der Asien-Krise betroffen sei. Nun aber mehren sich die Spekulationen, dass die staatlich gelenkte Zentralbank nach dem 1. Oktober die chinesische Währung, den Renminbi, doch abwerten wird, um den Export und den Absatz chinesischer Artikel anzukurbeln.

Ein anderes Problem würde aber auch so nicht gelöst: Noch immer stellen die weitgehend unrentablen Staatsbetriebe 106 Millionen Arbeitsplätze. Allein sieben Millionen Arbeiter wurden in diesem Sommer auf die Straße gesetzt. 15 bis 20 Millionen werden im kommenden Jahr folgen. Und das in einer Phase, in der bereits mehr als 100 Millionen Wanderarbeiter durchs Land ziehen.

Große Erwartungen setzte die chinesische Regierung in die Verhandlungen um die Aufnahme in die Welthandelsorganisation WTO, in der Hoffnung, damit ihre Exportwirtschaft zu beleben. Doch die Verhandlungen mit den USA scheiterten in der vergangenen Woche, unter anderem an der Frage der Öffnung des chinesischen Agrarmarktes. Eine Freigabe hätte für die mehreren Hundert Millionen Bauern in China harte Folgen. Gerade die USA könnten enorme Mengen an billigem Weizen und Hormonfleisch liefern und die chinesischen Bauern in die Pleite treiben.

Zudem hat es China völlig vernachlässigt, mit Vertretern der Europäischen Union zu verhandeln. Insgesamt 70 - darunter fast alle europäischen - der 134 WTO-Mitglieder haben China vor der gewünschten Aufnahme um bilaterale Verhandlungen gebeten. Da aber noch keines der Gespräche geführt wurde, ist eine Aufnahme Chinas in die WTO im November beim Gipfeltreffen in Seattle vorerst vom Tisch.

Auch deswegen kracht es im chinesischen Führungstrio. Parlamentspräsident Li Peng warf Premierminister Zhu Rongji - in chinesischen Medien meist "Wirtschaftszar" genannt - Versagen und einen "Kuschelkurs mit dem amerikanischen Neoimperialismus" vor. Künftig soll der Premier sowohl bei der Privatisierung der Staatsbetriebe als auch bei den WTO-Verhandlungen nichts mehr zu sagen haben. Rongji wiederum schlug zurück und warf hohen Funktionären um Li Peng "Korruption" vor.

Nichts geändert an der Krise der chinesischen Staatsführung hat offensichtlich auch die so genannte Kampagne der "Drei Reden" von Staatspräsident Jiang Zemin. Schüler, Studenten und Arbeiter mussten in diesem Sommer die "Drei Reden" zu lernen: Treue zur Partei, Studium des Marxismus und Kampf der Korruption. Die Kampagne lief drei Monate lang und wurde erst am 1. Oktober beendet."Einen Vorteil hatten die Kampagnen", sagt der populäre Autor Liang Xiaosheng. "Zum ersten Mal seit Jahren war Pekings beliebtes Strandbad Beidaihe nicht so überfüllt. Der Grund: Die Erwachsenen waren auf Drei-Reden-Sitzungen, während Pekings Kinder für die Militärparade am Nationalfeiertag probten."