Friedenstauben über der Ägäis

Griechenlands Regierung lernt Türkisch im Schnellkurs und hat damit gute Chancen, Klassenbester zu werden.

Wir sind hier, um mit unserer Liebe die Schmerzen des griechischen Volkes zu lindern." Mit diesen Worten für die Erdbeben-Opfer von Athen revanchierte sich der Bürgermeister von Istanbul, Ali Mufit Gürduma, als er Ende September seinen Athener Amtskollegen Dimitris Abramopoulos besuchte. Der hatte kurz nach dem verheerenden Beben, das Mitte August weite Teile der Westtürkei zerstörte, Istanbul besucht und Hilfe für die Stadt zugesagt. Nur drei Wochen später halfen türkische Hilfstrupps in Athen bei der Rettung von Verschütteten. Gürduma äußerte bei seinem Besuch die Hoffnung, dass "die Brücke des Vertrauens und der Freundschaft erhalten" bleibe, die "durch die Erdbeben entstanden" sei.

Und in der Tat verblüfft der Wandel der öffentlichen Meinung über den "Erbfeind" - vor allem in der Türkei. "Efharisto Poli Fili" - "Vielen Dank, Freund" - titelte die türkische Zeitung Hürriyet in griechischer Sprache, und die griechische Tageszeitung Ta Nea revanchierte sich auf Türkisch mit "Hepimiz Türküz" - "Wir sind alle Türken". Als der türkische Gesundheitsminister Osman Durmus von der faschistischen MHP öffentlich die Zurückweisung griechischer Blutkonserven forderte, schlug die neue Freundschaft endgültig in Wut auf die eigene Regierung um. "Halt's Maul und hau ab", schrieb die türkische Zeitung Radikal.

Die harten Töne kamen nicht von ungefähr. Die türkischen Behörden hatten sich nach dem Erdbeben vor allem mit Lippenbekenntnissen hervorgetan, die Armee kümmerte sich vorrangig um verschüttete Offiziere. Die Betroffenen waren überwiegend auf Selbstorganisation angewiesen, Hilfe und Bergungstruppen kamen in erster Linie aus dem Ausland, nicht zuletzt aus Griechenland.

Nach den Sommerferien, die sie in der Türkei verbracht hatten, durchquerten viele der in Deutschland lebenden TürkInnen Griechenland - das Auto mit griechischen und türkischen Fahnen geschmückt und Zettel mit der Aufschrift "Danke, Nachbar" an die Scheiben geklebt. In den griechischen Medien wurden diese Äußerungen mit großem Wohlwollen registriert. Und Außenminister Georgos Papandreou überrascht seit einiger Zeit die Öffentlichkeit mit immer neuen Vorschlägen zur Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen beiden Ländern.

Bereits Ende August erklärte er gegenüber der Tageszeitung Elefterotypia, er persönlich habe nichts dagegen, wenn sich die türkisch-sprechende Minderheit im griechischen West-Thrakien auf ihre "türkische Abstammung" berufe. Die offizielle Sprachregelung in Griechenland verwendet bislang strikt den Ausdruck "moslemische" Minderheit.

Obwohl dies den Protest der rechten Oppositionspartei Nea Demokratia zur Folge hatte, blieb Papandreou - mit offizieller Unterstützung von Ministerpräsident Konstantin Simitis - auch in der Folge auf Entspannungskurs. Besondere Beachtung fand vor allem eine Rede, die der griechische Außenminister Anfang Oktober bei einem "inoffiziellen Besuch" in Istanbul hielt.

Zwar stehe "zweifelsfrei fest", so Papandreou, dass die "Forderung nach Grenzveränderungen in der Ägäis nicht diskutierbar" sei. Für "zwei Länder, die auf internationaler Ebene zusammenarbeiten", könne das Grenzproblem aber "nicht so wichtig sein", als dass man keine Lösung finde. Der einzige "wirkliche Stachel" sei ohnehin Zypern. Dort müsse die Türkei ihre Haltung ändern und auf "die türkisch-zyprische Minderheit" einwirken. Beide Länder sollten das Zypern-Problem auf "europäischer Ebene" lösen.

Gerade in ihrer neuen Haltung zur europäischen Perspektive der Türkei zeigt sich die radikale Wendung der Regierung in Athen besonders deutlich. Jahrzehntelang hatte sich Griechenland gegen einen Beitritt der Türkei ausgesprochen. Nun erklärten griechische EU-Diplomaten, dass die Haltung ihrer Regierung "in dieser Frage möglicherweise falsch" gewesen sei.

Noch deutlicher wurde Papandreou. In einem Interview mit Ta Nea sagte er kürzlich, dass es seiner "Meinung nach im Interesse Griechenlands liegt, die Türkei als EU-Beitrittskandidaten anzuerkennen". Und auch Ministerpräsident Simitis unterstützte vergangene Woche gemeinsam mit dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich zu einem Staatsbesuch in Griechenland aufhielt, den Wunsch der Türkei nach einem EU-Beitritt.

Ob sich dieser Wunsch so schnell realisieren lässt, ist zwar weiterhin ungewiss, zumal sich das Europa-Parlament am Mittwoch vergangener Woche gegen eine baldige Aufnahme der Türkei in die erste Reihe der EU-Kandidaten ausgesprochen hat. Doch mit der neuen positiven Haltung aus Athen wird es der EU künftig schwerer fallen, an dem bisherigen Status der Türkei festzuhalten.

Ganz neu ist die aktuelle Entspannungspolitik der griechischen Regierung allerdings nicht. Die regierende sozialdemokratische Pasok betreibt damit vielmehr eine bewusste Fortsetzung ihrer erfolgreichen Strategie während des Nato-Krieges gegen Jugoslawien. Obwohl der Hafen von Thessaloniki die wichtigste Nachschub-Basis für die Nato während des Krieges war, hielt Simitis stets einen gewissen Abstand zum offiziellen Nato-Kurs. Auf diese Weise gelang es ihm, Griechenland als zuverlässigen Partner der Nato zu präsentieren und trotzdem Ansprechpartner Jugoslawiens zu sein. Den größten Erfolg konnte Simitis nach Ende des Krieges feiern, als die EU Thessaloniki zum Sitz für den Balkan-Stabilitätspakt wählte.

Für Griechenland ist dies ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung der angestrebten Rolle als Hegemonialmacht in der südlichen Balkan-Region. Dabei wird zunehmend weniger Rücksicht auf den traditionellen nationalen Konsens gegenüber dem "Erbfeind" genommen. Begriffe wie "Nationalstolz" und "griechische Ehre", die bisher im Wortschatz griechischer Politiker nicht fehlen durften, haben weitgehend ausgedient. Nun geht es ganz pragmatisch um das "nationale Interesse" - und um wirtschaftliche Vorteile.

Innenpolitische Schwierigkeiten hat die Pasok mit ihrer neuen Haltung gegenüber der Türkei kaum zu erwarten. Ein größeres Problem stellt jedoch die mangelnde Flexibilität der türkischen Machtelite dar. Simitis betonte zwar mehrfach, dass er zur europäischen Perspektive der Türkei stehe. Doch mit "irgendeinem Schritt" müsse die Türkei sich auf Griechenland zubewegen. In Athen hofft man nun, dass der Druck aus Washington etwas an der türkischen Haltung ändert, die wohl vor allem im Generalstab entschieden wird.

Die Beziehungen zwischen Athen und Washington sind indessen so gut, wie sie seit der Zeit der Militärjunta nicht mehr waren. Das Land ist in der Sicht der USA vom "Bösewicht" zum "Juniorpartner mit Balkan-Know-how" mutiert. Mitte November wird US-Präsident William Clinton die Türkei und Griechenland besuchen. Damit Clinton sich dann vielleicht als Friedensstifter feiern lassen kann, wird Athen zumindest bis zu diesem Zeitpunkt an seinem Schmusekurs festhalten.