Proletarische Postmoderne

Absolut ungefährliche Orte III: Das Willy-Brandt-Haus, wenn die SPD eine Wahlparty feiert.

Für Berlin. Wir kämpfen!" (Wahlslogan der SPD) "Für die SPD. Wir kämpfen." (Slogan einzelner Juso-Delegierter). "Für die BVV-Wedding. Ich kämpfe" (Martin Roski, SPD-Kandidat für die Bürgervollversammlung in dem Nordberliner Arbeiterbezirk) So viel Kampf in und um die SPD war selten. Vor allem so viel Kampf gegen die Langeweile.

Wer richtige Verlierer sehen wollte, hätte ins Metropol am Nollendorfplatz zu Bündnis 90/Die Grünen gehen müssen. Es muss schön gewesen sein, zu sehen, wie die Gesichter von Freunden der Bahn entgleisen können. Fast vier Prozent verloren, unter zehn Prozent lag die Partei zum Schluss. So sehen Loser aus.

Aber bei der zentralen SPD-Wahlparty im Willy-Brandt-Haus ist alles anders: Kein Einbruch, keine Gewinne, keine Überraschungen. Nur ein Franz Müntefering, der kämpft: Gegen den Bundestrend und gegen die Zwietracht. Aber mit den Berliner Freundinnen und Freunden, die früher noch Genossinnen und Genossen hießen. Es ist auch ein Kampf mit der Sprache: "Die große Krise der SPD" sieht er "im Griff".

"Ich hatte schon befürchtet, dass die Partei unter 20 Prozent fällt", gibt sich in der Wilhelmstraße/Ecke Stresemannstraße auch Debora Gärtner erleichtert. "Veränderung beginnt mit Opposition" steht auf dem Transparent, das sie zusammen mit weiteren Jusos am Treppengeländer im zweiten Stock nach der ersten Prognose (23 Prozent für die Berliner Sozialdemokraten) angebracht hat. Voll kritisch, die Jusos.

Voll kitschig findet die etwas ältere Parteibasis die Aktion der Parteijugend: "Der Wähler hat doch bestätigt, dass die Große Koalition weitermachen soll." Eberhard Diepgen, "unser Regierender Bürgermeister" wird er auch im Brandt-Haus genannt, könne an der SPD nun nicht vorbei. Der Moderator ist so voller Momper, dass er den Berliner Parteichef Peter Strieder mit Walter ankündigt.

Martin Roski, SPD-Kandidat für die BVV Wedding, will ebenfalls an der Großen Koalition festhalten. "Weil der Wähler das so will. Die Leute haben mir gegenüber immer wieder auf Wahlkampfveranstaltungen ihr Misstrauen gegen die Grünen ausgedrückt. Man muss das zur Kenntnis nehmen." Und: "Wenn sie mitregieren, kürzen die Grünen ja tatsächlich die Gelder zur Familienförderung zu Gunsten der Schwulen und Lesben. Meine Frau ist Litauerin und hätte das Geld brauchen können."

Schlimm für Roski ist vor allem, dass so viele Arbeiter die CDU gewählt haben. Ein "Linker" ist er nicht mehr, eher "linke Mitte". Früher war er mal Marxist. "Aber das ging schnell vorüber." Nicht mal die DKP, sagt Roski, war damals eine Arbeiterpartei: "60 Prozent Intellektuelle waren das." Nun ist also in Berlin die CDU die neue Arbeiterpartei. Berlin ist eben anders. "So'n Scheiß", meint ein weiteres SPD-Mitglied und geht erstmal Bier holen.

Das Bier - Berliner Kindl, 0,3 Liter - kostet vier Mark. Als Snacks gibt es Bockwurst und Rollmopshäppchen. Die männliche Parteibasis trägt Buttons ("Wir kämpfen!") und Schnauzbart, die weibliche rote Janker oder Tücher. "Die da drüben haben es immer noch nicht begriffen", erklärt eine Frau in rotem Sakko verbittert ihrem Mann die Wahlerfolge der PDS im Osten der Hauptstadt. Der zwirbelt nur an seinem Button, bricht die Befestigung ab und schweigt. Eine andere Frau wird von Sanitätern abtransportiert - Kreislaufschwäche.

Die PDS-Hysterie der Sozialdemokraten versucht Debora Gärtner zu kontern. Sie ist 19, hat gerade die Schule beendet und denkt voll politisch: "Man darf sich nicht auf die Spaltungsstrategien der CDU einlassen." Und: "Die PDS kann nur solange gewinnen, solange die SPD nicht deutlich macht, dass sie eine linke Alternative zur CDU ist." Auch sie will kämpfen, innerhalb der Jusos, nicht in der SPD. "Ich bin ja, wie so viele Jusos, gar kein Parteimitglied."

Dann kommt er. Momper. Die Stimmung kippt. Von der gepflegten Langweile in sozialdemokratischen Fanatismus: Es regnet Blumensträuße, rote Schals werden an rote Schirme geknüpft, "Walter, Walter" schallt es. Der Spitzenkandidat weiß, was die Massen hören wollen. In hundert Phrasen um den Berliner Ring: "Die Umfragen haben uns schlecht geredet"; "Klar haben wir voll im Gegenwind gestanden"; "Die Bäume wachsen nicht in den Himmel."

Das weiß auch Kalaschnikow-Herausgeber Stefan Pribnow, der vom zweiten Stock Flugblätter auf die Parteispitzen regnen läßt. "Wohin geht die SPD", fragt er besorgt im Namen seiner Ein-Mann-"Ad-hoc-Gruppe: Das Herz schlägt links, Diaspora", die für das Flugblatt verantwortlich zeichnet. Pribnow wird noch einige Jahre warten müssen, bis er endlich "bei denen da oben" mitspielen darf. Die Basis ist gegen ihn: "Eine Dreistigkeit ohne Gleichen."

Angesagt ist nur Momper, der gerade tönt: "Der Kampf geht weiter." Von der RAF lernen, heißt mitregieren. Bei ihm wird aus dem schlechtesten Nachkriegsergebnis der SPD die Wahl "mit dem geringsten Verlust". Wäre die Partei unter 20, aber über 15 Prozent geblieben, hätte Momper von einer "deutlichen Trendwende" und "erdrutschartigen Zugewinnen" gegenüber der Wahl in Sachsen sprechen können.

Sanfte Töne müssen die aufgepeitschte Partei-Basis nach der Kampfrede wieder beruhigen - Easy Listening als Musik der Neuen Mitte. Unumstritten ist das nicht, andere mögen es kämpferischer: Der Siebziger-Jahre-Klassiker "Kung-Fu-Fighting" erklingt, als nach der ersten Prognose feststeht, dass die Berliner SPD nicht die Brandenburger SPD ist. Schon beschweren sich die ersten Gäste: "Wir wollen lieber die ZDF-Wahlanalyse mitbekommen." Der Moderator entschuldigt sich.

Es ist nicht die einzige Panne. Technologische Innovation, die im Zukunftsprogramm der Sozialdemokraten knapp vor der Sozialen Gerechtigkeit rangiert, will umgesetzt werden. Aber die wenigen aufgestellten Fernseher stehen alle zu tief, ständig rangelt vor ihnen die Yuppie-Fraktion mit den Älteren, die auch etwas sehen wollen. Klassenkampf. Das Mikro des Moderators ist mal zu laut, mal zu leise. Meistens ist es aus. Die LED-Anzeige des postmodernen Glasaufzugs zeigt an, dass 19 Personen befördert werden können. Mehr als zehn passen aber nicht hinein.

Die große Leinwand, von der Medien und Parteibasis erwarten, dass die ARD- und ZDF-Hochrechnungen endlich für alle sichtbar werden, entpuppt sich als bloße Projektionsfläche für einen Overhead-Projektor. Ständig werden neue Folien aufgelegt: Die Hochrechnung der ARD von vor einer Stunde, der Assistent des Moderators schiebt schnell noch die Sitzverteilung zum Abgeordnetenhaus nach der Rechnung des ZDF - Stand: 18.30 Uhr - dazwischen. Beide Folien überlappen sich, zu erkennen ist nichts. Sozialdemokratische Innovation, die begeistert. Fast so wie der Fall der Mauer: "Berlin, nun freue dich." (Walter Momper)