Hamid Lounaouci und Mohammed Mekhaneg

»Zum inneren Frieden zurückkehren«

Seit dem Referendum vom 16. September, mit dem das Gesetz zur (bedingten) Amnestie für islamistische Terroristen von der Bevölkerung abgesegnet wurde, wartet Algerien auf die Bildung einer neuen Regierung. Diese wird vermutlich aus einer sehr breiten Koalition bestehen, die den neuen starken Mann, Präsident Abdelaziz Bouteflika, stützen soll. Erwartet wird, dass die Koalition die gemäßigten legalen islamistischen Parteien Ennahda und Hamas, die bereits an der bisherigen Regierungskoalition beteiligt waren, die ehemaligen Staatsparteien RND und FLN und den laizistisch-anti-islamistischen RCD (Sammlung für Kultur und Demokratie) umfasst.

Der RCD war in den letzten Jahren Oppositionspartei und hat sich zugleich als Gegenpol zu den Islamisten verstanden. Nun hat die Partei Bouteflikas Amnestiegesetz für jene islamistischen Terroristen, die ihre Waffen niederlegen, unterstützt und zum "Ja" beim Referendum aufgerufen. Es gilt als wahrscheinlich, dass der RCD der nächsten Regierung angehört. Dort würden Sie dann mit den Vertretern der legalen islamistischen Parteien zusammenarbeiten. Ist das kein Problem?

Lounaouci: Die oberste Priorität muss darin bestehen, zum inneren Frieden zurückzukehren. Opposition ist kein Beruf, sondern eine Aufgabe, die enden oder fortdauern kann. Das wird von dem Projekt abhängen, für dessen Umsetzung man uns vorschlagen wird, in die Regierung einzutreten. Was die genannten politischen Parteien betrifft, so haben wir seit 1996 eine neue Verfassung, die klare Vorgaben setzt (die einerseits den Islam zur Staatsreligion erhebt und andererseits Parteien auf rein religiöser Grundlage theoretisch verbietet; B.S.). Es gibt allenfalls Probleme bei deren Anwendung.

Unser Parteivorsitzender Said Sadi hat es so ausgedrückt: Wir beanspruchen keine Urheberrechte, wenn es um die Republik geht. Wenn heute, 1999, diese Parteien der Ansicht sind, dass die Demokratie eine gute Sache sei, so können wir uns dazu nur beglückwünschen. Wir werden aber wachsam bleiben.

Wie stehen Sie zu der Amnestie, wie sie das Gesetz vorsieht, das seit dem 13. Juli 1999 gilt und beim Referendum am 16. September von der Bevölkerung abgesegnet wurde?

Mekhaneg: Meine Meinung ist: Man muss bis zu einer nationalen Generalamnestie gehen, einer allgemeinen Amnestie. Algerien benötigt alle seine Söhne. Es ist nötig, die Isolierung zu überwinden. Man muss diesen Leuten vergeben und wieder dazu übergehen, Reichtümer in diesem Land zu schaffen.

Lounaouci: Das Gesetz zentriert sich um einige entscheidende Punkte. Der wichtigste ist: Das Gesetz trifft eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Terroristen. Auf der einen Seite stehen jene, die keine Morde oder Vergewaltigungen begangen und kein Blut vergossen haben; sie gehen straffrei aus, in bestimmten Fällen nach einer Bewährungszeit. Für die anderen verhängt die algerische Justiz ihre Sanktionen, wobei ihnen garantiert wird, dass ihre Strafe ein bestimmtes Höchstmaß nicht überschreitet. Die Justiz hat die Aufsicht darüber, wie die Amnestie - abhängig von den jeweils begangenen Taten - angewendet wird.

Zudem ist das Gesetz zeitlich befristet. Nur jene Terroristen, die bis zum 13. Januar 2000 ihre Waffen niederlegen, können von der Amnestie profitieren. Und: Es sieht keine Rehabilitierung der politischen Bewegung vor, die das Land in diese Gewaltsituation hineingeführt hat, der FIS (Islamische Heilsfront). Damit bildet es das genaue Gegenteil des Vertrags von Rom. Dieser Vertrag verlangte, um zum inneren Frieden zu kommen, die Wiederzulassung des FIS mit vollen politischen Betätigungsmöglichkeiten. Er wurde im Namen der FIS durch einen Vertreter unterzeichnet, der bei anderen Gelegenheiten zur selben Zeit für die terroristischen GIA sprach und 14 Tage später in deren Namen die Verantwortung für das Autobomben-Attentat vom Boulevard Amirouche übernahm, bei dem 70 Zivilisten starben.

Abdelaziz Bouteflika hat sich nach einem Bericht der französischen Tageszeitung Le Monde nun positiv auf den Vertrag von Rom bezogen. Versucht Bouteflika, durch solche Vorstöße ein bestimmtes Potenzial an sein starkes Regime zu binden?

Lounaouci: Im Gegenteil, bei seinen Auftritten verurteilt Bouteflika die Vorgehensweise der "Römer" und spricht dem politischen Islamismus sein Existenzrecht in Algerien ab. Die letzte "Islamische Republik" im theokratischen Sinn, so sagte Bouteflika jüngst, sei mit dem Tode des Propheten Mohammed zu Ende gegangen. Es kann nicht darum gehen, im Kaffeesatz etwas über die politischen Absichten der einen oder anderen zu lesen. Ein Gesetzestext oder ein Vertrag ist etwas, das man schwarz auf weiß hat und nachlesen kann. Wir bestimmen unsere Haltung nach dem, was in dem Gesetz vom 13. Juli steht, das wir unterstützt haben, indem wir dazu aufgerufen haben, beim Referendum mit "Ja" zu stimmen.

Was sind die Ursachen des Konflikts, der Algerien in den letzten Jahren erschütterte? Und: Sind diese Ursachen Ihrer Ansicht nach heute überwunden?

Mekhaneg: Am Ausgang des Konflikts steht eine schlechte Interpretation des Islam. Diese besteht darin, den Islam heutzutage nach den Gegebenheiten von einst auszulegen. Der Islam antwortet auf alle Bedürfnisse - wirtschaftliche, soziale sowie kulturelle - und gibt Orientierungen vor. Doch danach liegt es an den Menschen, die in einer bestimmten Situation leben, darüber zu entscheiden, wie sie ihnen folgen. Auch verändert sich der Islam im Lauf der Zeit, eine bestimmte Denkweise schreibt er nicht vor, im Gegenteil verpflichtet er uns, die Ideenpluralität zu akzeptieren. Deshalb haben wir das Mehrparteiensystem befürwortet. Es gab den FIS, die Partei, die all diese Probleme hervorgerufen hat; ihre Führer haben heute verstanden, dass dies ein Fehler war und dass man die Konfliktursachen beheben muss.

Hinzu kam als zweite Ursache die Unordnung, die in den Jahren zwischen 1989 und 1991 herrschte, die Abwesenheit von Regeln und von Gesetzen, die Desorganisierung der Gesellschaft. In dieser Regellosigkeit wuchsen gewisse Parteien einfach so heran. Aber diese Ursachen sind heute verschwunden, es wird solche Konflikte in Algerien nicht mehr geben.

Wie sollen die Prioritäten der künftigen Regierung aussehen?

Mekhaneg: Wir sind nicht für einen laizistischen Staat, wir sind auch nicht für einen theokratischen Staat, wir sind für einen Rechtsstaat, der die Traditionen der Nation respektiert. Die letzte Verfassung von 1996 definiert einen Rahmen, den jede Partei einhalten muss, die ein Programm vorlegen will. Es gibt keine Entschuldigung für jene, die Änderungen an diesem Rahmen vornehmen wollen.

Das algerische Volk hat sich ganz klar für die "innere Eintracht" ausgesprochen. Die Regierung muss diesem Auftrag folgen. Das Volk hat dem Präsidenten und der künftigen Regierung die Glaubwürdigkeit gegeben, um zu handeln. Oberste Priorität muss die Stabilität sein, politisch wie ökonomisch. Algerien hat sich für die Liberalisierung seines Außenhandels entschieden, es muss den Warenfluss, die Kommunikation, den Eintritt für die ausländischen Unternehmen erleichtern.

Lounaouci: Das republikanische Projekt beinhaltet eine Reihe dringender Reformen, die wir heute in den Absichten des Präsidenten wiederzufinden meinen. Da ist eine tief gehende Reform des Schulwesens, in dem bisher die Fundamentalisten und ihre Lehrinhalte sich ungestört breit machten. Da ist eine weit reichende Reform des staatlichen Verwaltungs- und Justizapparats. Es geht auch um die Anerkennung der rechtlichen Stellung der Frau - durch die Abschaffung des Familiengesetzes. Schließlich ist da noch die Einführung einer funktionierenden Marktwirtschaft an Stelle der derzeitigen mafiosen Ökonomie, in der nur importiert und exportiert, nicht aber produziert wird. Hinzukommen muss eine geopolitische Umorientierung, weg von Bindungen auf der Grundlage religiöser und historischer Zusammengehörigkeiten und hin zu Europa.

Hamid Lounaouci ist Vorsitzender der RCD-Fraktion im algerischen Parlament. Mohammed Mekhaneg ist Abgeordneter und Vorstandsmitglied der Hamas. Der autor sprach mit beiden Politikern unabhängig voneinander.