Attacke im armenischen Parlament

Das große Spiel geht weiter

Eine Kamikaze-Aktion von Psychopathen oder ein Komplott mit internationaler Beteiligung? Mitte vergangener Woche drang ein fünfköpfiges Kommando mit automatischen Gewehren in den Sitzungssaal des armenischen Parlamentes ein, eröffnete das Feuer und brachte den Premierminister, den Parlamentsvorsitzenden und weitere sechs Minister und Abgeordnete um. Die Combo nahm die restlichen 41 Leute als Geiseln und ließ sich nach 16 Stunden Verhandlungen abführen.

Ihr Anführer wurde als Nairi Hunanjan identifiziert, ein ehemaliger Journalist. Er war Mitglied der extrem nationalistischen Daschnak-Bewegung gewesen. Deren Chef sagte, Hunanjan sei 1991 oder 1992 ausgeschlossen worden. Im übrigen handele es sich bei der Gruppe um eine "Gruppe ziemlich schizophrener Leute".

In einer im armenischen Fernsehen ausgestrahlten Rede, die vor dem Aufgeben der Gruppe aufgenommen worden war, erklärte Hunanjan, sie wollten das armenische Volk vor dem Zugrundegehen retten.

Die Motive der Männer für die Attacke sind damit nicht klarer geworden. Aus verschiedenen ihrer Äußerungen geht aber hervor, dass sie es zumindest gezielt auf den Tod von Premierminister Wasgen Sarkisjan angelegt hatten - den ehemaligen Warlord aus Berg Karabach und starken Mann Armeniens, der die Armee hinter sich hatte und breite politische Unerstützung genoss.

Sarkisjan traf sich einige Stunden vor seinem Tode mit dem US-Vize-Außenminister Strobe Talbott, um über Berg Karabach zu sprechen. Die Enklave in Aserbaidschan hatte sich 1988 für unabhängig erklärt, im nachfolgenden Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan kamen rund 15 000 Menschen ums Leben, trotz eines fünf Jahre alten Waffenstillstandes flammen die Kämpfe immer wieder auf.

Und hier setzen die Spekulationen ein. Wurde Sarkisjan umgebracht, weil er mit dem Pentagon rumkungelte, sich an Aserbaidschan annäherte und mit Georgien eine unabhängige, regionale Politik projektierte? Davon scheint Le Monde auszugehen. Am Wochenende veröffentlichte sie einen Artikel mit der knalligen Überschrift: "Tschetschenien, Armenien, Georgien: Moskau manövriert gegen die transkaukasische Unabhängigkeit" und versah ihn mit der Unterzeile: "Der russische Wille zur Revanche und das Öl erklären die jüngsten Ereignisse".

Der Einfluss Russlands, so argumentiert die Zeitung, ist im Transkaukasus in letzter Zeit weiter geschwächt worden: Der armenische Präsident habe sich in den letzten Monaten einige Male mit dem Präsidenten Aserbaidschans getroffen - "zur großen Irritation der fern gehaltenen Russen". Die US-Vermittler hätten sich "in die Bresche gedrängt", indem sie einen neuen Plan zur Regelung des Berg Karabach-Konfliktes vorantrieben, den sie auf dem OSZE-Gipfel im November bekanntmachen wollten. Und Sarkisjan sei nach Brüssel und Washington geflogen, wo er "sehr gut empfangen wurde, insbesondere von den Militärs, während sein Alliierter Demirtschjan den Russen Sand in die Augen streute".

Die Nachbarländer Georgien und Aserbaidschan haben schon eine Vorliebe für die Nato und unterstützen nach Angaben des US-Magazins Time auch noch aktiv die Tschetschenen. Zudem hat Aserbaidschan das Pipelineprojekt von Baku zum türkischen Ceyhan wieder angekurbelt - das "Schlachtross der Amerikaner in der Region", wie Le Monde es bezeichnet; der schon fertig gestellte Teil führt nahe an Berg Karabach vorbei.

Und bei dem Überfall des Killerkommandos gebe es, so Le Monde, einige offene Fragen: Wie konnten die fünf Männer mit ihren "auffallenden" Gewehren in das Parlament gelangen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen? Und warum waren in dieser Stunde der Fragen an die Regierung der Sicherheitsminister und der Außenminister abwesend?

Man weiß es nicht. Aber beim "großen Spiel" um Öl und Einfluss im Kaukasus sind ein paar tote Staatsmänner kein überhöhter Einsatz.