Kommt kein Castor

Ein Jahr, nachdem Rot-Grün den Ausstieg aus der Atomenergie versprochen hat, stehen die AKW-GegnerInnen vor neuen Aufgaben. Gelingt ihnen der Übergang von der Anti-Castor- zur Anti-Atom-Bewegung?

Der Reporter der lokalen Elbe-Jeetzel-Zeitung (EJZ) war schockiert. "Lethargisch und frustriert - so wirkten viele Atomkraftgegner, die sich für drei Tage in Dannenberg zur Herbstkonferenz getroffen haben. Das Entsetzen und die Enttäuschung über die rot-grüne Politik hat die Szene gelähmt. Dabei wäre gerade jetzt eine starke Anti-AKW-Bewegung für den geforderten Ausstieg wichtiger als je zuvor."

Was war geschehen? Der Journalist hatte sich nicht in den für die Pressekonferenz vorgesehenen Raum begeben, sondern sich mitten ins Abschlussplenum der Konferenz gesetzt. Dort musste er miterleben, wie die Versammlung zwei Stunden lang über den Wortlaut einer Presseerklärung stritt. Manche TeilnehmerInnen plädierten sogar dafür, gar nichts an die Medien weiterzugeben, weil ohnehin kein Ereignis anstünde. Und wie es mit der Anti-AKW-Bewegung weitergehe, wisse schließlich auch keiner.

Ist eine der ältesten und stärksten Protestbewegungen ein Jahr nach dem Antritt von Rot-Grün am Ende? Oder gab es schon in den letzten Jahre keine Anti-AKW-Bewegung mehr, sondern nur noch eine Anti-Castor-Bewegung - lediglich zusammengehalten vom Event-Charakter und Fun-Faktor des wendländischen Widerstandes? Oder wurde den Anti-AKW-Initiativen gar durch den von der früheren Umweltministerin Angela Merkel (CDU) verkündeten Transport-Stopp von Castor-Behältern jegliche Möglichkeit genommen, neue Leute anzusprechen und Widerstand zu organisieren? Was der erschrockene EJZ-Redakteur nicht wissen konnte: Die Plena der halbjährlich stattfindenden Bundeskonferenzen haben sich schon immer ausgezeichnet durch Profilierungswettstreits auf niedrigem Niveau - gepaart mit der Zurschaustellung resignativen Weltschmerzes. Schlüsse auf die Stärke der Bewegung aber ließen sich daraus noch nie ziehen.

Wichtiger als die Herbstkonferenz waren denn auch die Diskussionen in den Arbeitsgruppen - zu einem Zeitpunkt, wo das Ziel der AtomgegnerInnen, der Ausstieg, eigentlich schon längst gesetzlich geregelt sein müsste: Vor einem Jahr hatte Rot-Grün festgeschrieben, dass die Verhandlungen mit den Eigentümern der deutschen Atomkraftwerke bis heute abgeschlossen sein sollten.

Kein Wunder, dass die Umweltverbände von Greenpeace bis Bund sich von Rot-Grün abzuwenden beginnen - auf die AtomkraftgegnerInnen zu. Das Verhältnis zwischen Initiativen und Verbänden ist enger geworden. Auch auf internationaler Ebene wachsen den AktivistInnen neue Verbindungen heran. In West wie Ost: Regelmäßige deutsch-französische Treffen und eine gemeinsame Unterschriftenaktion gegen den Bau des neuen Siemens-Framatome-Reaktors stehen ebenso auf dem Programm wie ein westeuropäischer Aktionstag gegen Transporte. Und sächsische Initiativen arbeiten inzwischen mit AtomkraftgegnerInnen aus Osteuropa zusammen.

Bleibt für Deutschland noch die aus dem von Merkel verhängten Transport-Stopp resultierende so genannte Verstopfungsstrategie der AKW-GegnerInnen: Bringt die Lagerbecken zum Überlaufen! Während der grüne Umweltminister Jürgen Trittin kurz vor Konferenzbeginn ankündigte, Konzepte zu entwickeln, mit denen sich die Stillegung von AKW vermeiden lasse - so lagen in Dannenberg die Gegenmaßnahmen der Bewegung schon auf dem Tisch: Wie die von Trittin geforderten Transport-Bereitstellungslagerung technisch und juristisch verhindert werden kann, wurde ebenso diskutiert wie der Widerstand gegen den Bau von Castor-Hallen an den Reaktoren sowie Aktionen gegen die Anlieferung leerer Lagerbehälter an den AKW.

Hinweise darauf, dass sich vielleicht wirklich so etwas wie eine neue Anti-Atom-Bewegung entwickeln könnte, waren auch auf der vergangene Woche zu Ende gegangenen "Woche zur Förderung des Atomausstiegs" in Leipzig zu vernehmen. Dort kamen zu den etwa 30 Veranstaltungen - vom politischen Vortrag bis zum Solaranlagen-Workshop, vom Punkkonzert bis zur Greenpeace-Ausstellung und von der klassischen Podiumsdiskussion bis zum Filmabend - mehr als 1 500 Leute. Nachdem sich Teile der Bewegung in den letzten Jahren auf die Mobilisierung zu den Castor-Transporten konzentriert hatten, zählten für viele das Errichten von Infoständen in der Innenstadt vielleicht zum ersten Mal zum basispolitischen Programm. Quintessenz: zurück auf die Straße.

Ob die Entwicklung von der Anti-Castor- zur Anti-Atom-Bewegung wirklich gelingt, könnte sich am 13. November in Berlin zeigen. Dann nämlich erreicht der Traktoren-Treck der wendländischen Bäuerlichen Notgemeinschaft die Hauptstadt. Unter dem äußerst einfallsreichen Motto "Gerhard, wir kommen" will die Notgemeinschaft gemeinsam mit möglichst vielen DemonstrantInnen aus der ganzen Republik in einer "Stunkparade" Kanzler und Regierung klarmachen, was ihnen droht, wenn der Atomausstieg weiter verschleppt wird.

Selbst wenn die begonnene Entwicklung hin zur Anti-Atom-Bewegung erfolgreich verläuft, eine Anti-Castor-Bewegung wird es auch weiterhin geben. Die Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Aktionen gegen einen möglichen Transport Anfang nächsten Jahres war auf der Dannenberger Bundeskonferenz die mit Abstand größte. Und selbst wenn es auf der Stunkparade in Berlin bei der symbolischen Drohung bleiben sollte, so sind die Planungen für den echten Stunk entlang der Gleise bereits in vollem Gange.