Alle Macht dem Staat

Otto Schily will in der EU das individuelle Asylrecht zu Gunsten von Kontingentaufnahmen abschaffen.

Das Treffen gilt als historische Zäsur. In Evian, einem kleinen Städtchen auf der französischen Seite des Genfer Sees, fand 1938 eine internationale Konferenz statt. Das Thema: wohin mit den Flüchtlingen? Es ging allein um die Juden, auch wenn dieses Wort seltsamerweise keinem einzigen Redner über die Lippen kam. Eine Lösung wurde nicht gefunden. Einigkeit herrschte nur darüber, dass jedes Land selbst über die Aufnahme von Immigranten entscheiden sollte. Und die meisten Staaten entschieden, keine aufzunehmen.

Als Konsequenz aus dieser Erfahrung wurde nach dem Ende der Nazi-Herrschaft das Asylrecht als individuell einklagbarer Anspruch anerkannt. Doch dieses Recht soll nun in Europa nicht mehr gelten - wenn es nach dem Willen des deutschen Innenministers Otto Schily (SPD) geht.

Zielgenau steuert er auf die endgültige Abschaffung des Asylrechts zu. Nächste Station der Reise ist die Innenministerkonferenz kommende Woche, auf der die europäische Einwanderungspolitik harmonisiert werden soll. Bereits im Vorfeld trommelt Schily für seine Vorstellungen von Asylpolitik. So forderte er in mehreren Interviews eine genauere Unterscheidung "zwischen Zuwanderung, Asyl und dem Schutz für Bürgerkriegsflüchtlinge". Außerdem sollten "die Lasten der Wanderungsbewegungen innerhalb der (Europäischen) Union gerechter" verteilt werden als bisher. Insgesamt gehe es aber darum, sich auf die Europäisierung der Asylpolitik vorzubereiten und dafür das deutsche Asylrecht endgültig abzuschaffen: "Europa wird nicht einfach unsere Regelungen übernehmen. Ein subjektives Recht auf Asylgewährung wird die EU nicht akzeptieren". Deutschland sei das einzige Land in Europa, in dem es ein individuell einklagbares Recht auf Asyl gebe.

Der Hintergrund für Schilys Äußerungen: Auf dem EU-Gipfel im finnischen Tampere hatten sich die Regierungschefs der EU-Staaten formal zu einer uneingeschränkten Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention bekannt. Ein "Gemeinsames Europäisches Asylsystem" müsse auf der "Grundlage der uneingeschränkten und allumfassenden Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention" geschaffen werden, so das Schlussdokument der Tagung Mitte Oktober. Gleichzeitig einigten sich die Staatschefs auf das Konzept des temporären Schutzes für Flüchtlinge als Grundlage der europäischen Asylpolitik, für die innerhalb eines Jahres der Rahmen erarbeitet werden soll.

Schily handelte sich mit dem Beschluss von Tampere das Problem ein, dass der Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention nicht - wie das deutsche Asylrecht - zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Verfolgung unterscheidet. Wiederholt haben in den letzten Monaten britische Gerichte Deutschland als unsicheres Asylland eingestuft, da hier nicht-staatliche Verfolgungsgründe keine Berücksichtigung finden. 1996 wurden beispielsweise in Frankreich 31,92 Prozent aller Flüchtlinge aus Sri Lanka anerkannt, in Deutschland erhielten hingegen nur 8,15 Prozent von ihnen Asyl und 2,87 Prozent Abschiebungsschutz.

Müsste Schily längerfristig die Unterscheidung zwischen staatlicher und nicht-staatlicher Verfolgung fallen lassen, würde die Anerkennungsquote von Asylbewerbern in Deutschland um ein Vielffaches steigen. Das Recht auf Asyl würde dann nämlich auch für Bürgerkriegsflüchtlinge und für gruppenspezifisch Verfolgte gelten, die bisher nur geduldet werden.

Die Bundesregierung hat sich aber das Gegenteil zum Ziel gesetzt. Sie möchte ihre Asyllast nach Europa exportieren und stattdessen hochqualifizierte Einwanderer für den internationalen Wirtschaftswettkampf aufnehmen. Dafür will man das längst nicht mehr zutreffende Image aufrecht erhalten, demzufolge Deutschland das humanste Land in Europa sei, das die meisten verfolgten Menschen aufnimmt.

Die Realität sieht anders aus: So lag die Zahl der Flüchtlinge, die Deutschland erreichten und einen Antrag auf politisches Asyl stellten, im letzten und in diesem Jahr jeweils nur noch bei ungefähr 100 000. Davon können höchstens vier Prozent mit einer Anerkennung rechnen. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl liegt Deutschland damit als Einwanderungsland hinter der Schweiz, den Niederlanden, Belgien, Norwegen, Schweden und Österreich nur noch im unteren Mittelfeld der EU, selbst in Großbritannien haben im letzten Quartal erstmals - in absoluten Zahlen - mehr Flüchtlinge einen Asylantrag stellen können als in Deutschland.

Schily verschärft die Gangart gegen Flüchtlinge trotzdem weiter. Noch im Sommer hatte er entgegen den Forderungen aus der CDU/CSU erklärt, mit der Rückführung von Kosovo-Flüchtlingen könne aus humanitären Gründen frühestens im Frühjahr 2000 begonnen werden. Jetzt will er, soweit möglich, noch im Winter mit der Abschiebung beginnen, obwohl bereits zwei Drittel der offiziell aufgenommenen 15 000 Flüchtlinge freiwillig zurückgekehrt sind.

Schily geht es auch mehr um die 180 000 Kosovo-Albaner, die schon seit mehreren Jahren in Deutschland leben und meist als abgelehnte Asylbewerber lediglich geduldet werden. Dagegen gewährt selbst das gebeutelte Mazedonien den Kosovo-Flüchtlingen eine Bleibefrist bis März.

Insgesamt zielt Schilys Strategie darauf ab, die Entscheidung über die Aufnahme von Flüchtlingen und Einwanderern vom Grundgesetz zu lösen und völlig von der Willkür der Politik abhängig zu machen. Denn wäre der individuelle Rechtsanspruch auf Asyl in Deutschland erst einmal abgeschafft, könnte bei der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen und Einwanderern nach einem reinen Kosten-Nutzen-Kalkül vorgegangen werden. Schilys Äußerungen laufen darauf hinaus, das europäische Asylrecht, das auf der Genfer Flüchtlingskonvention beruht, zu unterwandern. Dabei macht er sich den Ansatz des Wiener Konzepts zur längerfristigen Ablösung der Genfer Flüchtlingskonvention zu Eigen.

Es ist also kein Zufall, dass auf Schilys Zug auch die unionsregierten Bundesländer unter Führung Baden-Württembergs, Bayerns und Hessens aufgesprungen sind. In einer in den Stuttgarter Nachrichten verbreiteten Stellungnahme lässt der Baden-Württembergische FDP-Vorsitzende Walter Döring verlauten, die "ungeregelte Zuwanderung" durch Asyl koste die "Steuerzahler viele Milliarden". Daher sei es notwendig, die Zuwanderungspolitik stärker "an den Interessen Deutschlands durch Berücksichtigung von Alter, Bildung, beruflichen Kenntnissen, familiären Verhältnissen und finanzieller Absicherung der Antragsteller" auszurichten. Man brauche "jährliche Gesamthöchstzahlen" und "Teilquoten für einzelne Zuwanderungsgruppen", um zu erreichen, dass einerseits "dringend benötigte Fachkräfte" einwandern können, andererseits nicht nützliche Menschen draußen gehalten werden.

Die hessische Landesregierung sorgt sich dagegen weniger um den Mittelstand und seine wirtschaftliche Leistungskraft, sondern um die Kosten. Seit der Verschärfung des Asylbewerber-Leistungsgesetzes 1997 erhalten Asylbewerber drei Jahre lang nur Leistungen deutlich unterhalb des Sozialhilfesatzes. Anschließend aber hätten auch die geduldeten Asylbewerber ein Recht auf die volle Leistungshöhe der Sozialhilfe. Bevor nun im nächsten Jahr erstmals nach der Gesetzesverschärfung die ersten Flüchtlinge höhere Leistungen erhalten könnten, sollen diese rechtzeitig wieder abgeschafft werden.

Für diejenigen, die nicht wieder abgeschoben werden, weil sie in der Zwischenzeit eine Ausbildung absolviert haben und damit verwertbar geworden sind, soll eine "bessere Integration" stattfinden. Die Bundesregierung will dazu auf der Innenministerkonferenz über eine "Altfallregelung" verhandeln. Die wird nach den letzten bekannten Kompromissvorschlägen etwa fünf Prozent der rund 300 000 Flüchtlinge betreffen, die seit Jahren wegen der Genfer Konvention mit einer befristeten Duldung in Deutschland leben. Die restlichen 95 Prozent können dann ab 2001 je nach Bedarf abgeschoben werden - wenn Schily sich bei der Erarbeitung der gemeinsamen EU-Kriterien durchsetzen sollte.