Another Side of the Wall

Die Mauer muss weg! Vierzig Jahre, bevor Ost-Deutsche dafür demonstrierten, schossen schon West-Polizisten für die Freiheit hinter der Mauer.

Berlin, 18. August 1962: Der 18jährige Peter Fechter liegt angeschossen im Streifen hinter der Berliner Mauer. DDR-Grenzoldaten waren es, die seinen Fluchtversuch zum Scheitern brachten: Fechter ist die Mauer schon hochgeklettert, als ihn die tödlichen Schüsse treffen. Danach lassen ihn die Grenzer über eine Stunde liegen, während sich auf der Westseite eine aufgebrachte Menschenmenge sammelt. Auch Beschäftigte des nahe gelegenen Axel-Springer-Verlags strömen herbei, um die DDR-Volkspolizisten - die einzigen, die Fechter hätten retten können - zu beschimpfen.

In den Tagen darauf entluden sich die Proteste der West-Berliner gegen die Mauer wie in den Jahrzehnten danach nicht wieder. Das erste Jahr nach dem Mauerbau hatte es in sich - und das nicht nur auf der Ostseite, wo knapp 30 Menschen bei Fluchtversuchen zu Tode kamen. An die hundert Mal beschossen West-Berliner seit August 1961 DDR-Grenzposten - ohne dass der Berliner Senat ernsthaft dagegen vorgegangen wäre. Und das, obwohl mehr als zwei Drittel der Schüsse aus Waffen der West-Berliner Polizei abgegeben wurden.

Der Regierende Bürgermeister Willy Brandt wollte sich mit dem Mauerbau nicht abfinden: "Wir werden es auf Dauer niemandem verbieten können, das, was er über die Mauer denkt, nicht nur zu sagen, sondern seinem Empfinden auch stärkeren Ausdruck zu verleihen." Vier Monate nach dem Mauerbau forderte Brandt militanten Widerstand der Berliner gegen den "antifaschistischen Schutzwall" und seine Beschützer geradezu heraus. Mit tödlichen Folgen: Am 23. Mai 1962 starb der erste Ost-Grenzer durch die Kugeln eines West-Beamten. Bis dahin waren DDR-Grenzposten schon ein drei Viertel Jahr lang fast wöchentlich beschossen worden. Der innerdeutsche Kleinkrieg entlang der Mauer näherte sich seinem Höhepunkt. Der dem Mauerbau vorangegangene Notenwechsel zwischen den USA und der Sowjetunion hatte dafür die Grenzen abgesteckt. Während Nikita Sergejewitsch Chruschtschow der DDR-Regierung zugestand, das Land von der Bundesrepublik abzugrenzen, garantierte US-Präsident John F. Kennedy Konrad Adenauer den freien Zugang zu Westberlin.

Der Bundeskanzler fügte sich der weltpolitschen Patt-Situation, auf die Brandt keine Rücksicht nehmen musste. Weil die westlichen Alliierten ihn lediglich angewiesen hatten, keinen Krieg zu provozieren, konnte er sich als einsamer Kämpfer für ein vereintes Deutschland präsentieren. Angriffe gegen Büros der SED in Westberlin und die von der DDR-Reichsbahn betriebene Berliner S-Bahn häuften sich. Fahrgäste und Bahnangestellte wurden verprügelt und als Kommunisten beschimpft, Waggons und Gleisanlagen zerstört.

Mit augenzwinkernder Befürwortung der Regierenden. "Wir werden uns nicht damit abfinden, dass das Schlagwort 'die Mauer muss weg' ein gleiches Schlagwort wird wie das von der Wiedervereinigung Deutschlands", kündigte Brandt im Dezember 1961 an. Zeitgleich dazu erließ der Senat zwar einen Schießbefehl, der die Schüsse auf DDR-Grenzposten einschränken sollte. Doch solange die Polizeikugeln nicht in West-Berlin einschlugen, musste sich kein Polizist an die Verordnung halten. "Jeder unserer Polizeibeamten und jeder Berliner Bürger soll wissen, dass er den Regierenden Bürgermeister hinter sich hat, wenn

er seine Pflicht tut, indem er von seinem Recht auf Notwehr Gebrauch macht", erklärte Brandt am 17. Juni 1962 - was für die DDR-Regierung nichts anderes als einen "Freibrief zum Mord" darstellte.

Nicht zu Unrecht. In den Tagen zuvor hatte der Bäckergeselle Rudolf Müller vom Gelände des Axel-Springer-Verlages aus einen Tunnel unter der Mauer gegraben - in den Keller des ersten Hauses auf der Ost-Seite. Am 18. Juni wollte er seine dort lebende Familie in den Westen hinüberholen - bewaffnet. Als der 20jährige DDR-Grenzsoldat Reinhold Huhn die Familie nach ihren Ausweisen fragte, kam Müller gerade hinzu, zog seine Pistole und schoss auf den Grenzer - der zweite Schuss war tödlich. Die Familie konnte durch den Tunnel in den Westen fliehen. West-Berliner Polizeibeamte sicherten den Fluchtweg ab, um im Notfall für den Fluchthelfer eingreifen zu können. Doch das war nicht mehr nötig: Müller gelangte unversehrt zurück; der damalige Bild-Chefredakteur lud ihn direkt nach seiner Rückkehr in den Westen zum Empfang ins Springer-Hochhaus.

Bevor CIA-Beamte sich um Müller kümmerten, nahm der Staatsschutz der West-Berliner Polizei Müller die Tatwaffe ab. Für die passende Entlastung sorgte dann der Bundesnachrichtendienst (BND) mit einem Zeugen, der unter falscher Identität aussagte: Volkspolizisten hätten versehentlich ihren eigenen Kollegen erschossen, der Fluchthelfer hingegen sei unbewaffnet gewesen.

Egon Bahr, damals Sprecher des Senats und enger Vertrauter Brandts, sieht auch heute noch keinen Grund, an der offiziellen Version zu zweifeln - schließlich sei es im Senat zu keinen weiteren Diskussionen über den Vorfall gekommen. Müller konnte die nächsten Jahrzehnte als leitender Angestellter des IG Metall-Hauptvorstandes in Frankfurt verbringen, ehe er 1996 doch noch verhaftet wurde. Die Berliner Staatsanwaltschaft beschuldigte ihn des Mordes, doch als fünf Monate später das Urteil gefällt wurde, kam lediglich eine einjährige Bewährungsstrafe wegen Totschlags heraus. Zwar erkannte das Gericht an, dass es keinerlei rechtfertigenden Notstand gab, den Grenzer Reinhold Huhn zu erschießen. Doch durch sein engagiertes und verdienstvolles Leben habe sich Müller die milde Strafe durchaus verdient.

Kein Einzelfall. Vor allem Studenten aus dem Umfeld des Ringes Christlich-demokratischer Studenten (RCDS) und der Jungen Union waren es, die sich auf die einfache Fluchthilfe nicht beschränken wollten, um ihrer Forderung nach Abriss der Mauer Nachdruck zu verleihen. Dass sie durchaus auch mit Plastiksprengstoff umgehen konnten, betonten die vom Senat als "unsere wundervollen Studenten" Gepriesenen immer wieder - ohne dass eines ihrer Bomben-Attentate je zu einem Strafverfahren geführt hätte.

Als dann zwei Monate später Peter Fechter von DDR-Grenzsoldaten erschossen wurde und Hunderte Zuschauer zusahen, wie er nahe des Checkpoint Charlie starb, richtete sich die Empörung der Westberliner erstmals gegen den Senat - sie forderten ein härteres Eingreifen der Polizei. "Willy, wir brauchen Waffen" lautete einer der Slogans, der während der viertägigen Krawalle gerufen wurde.

Der damalige Innensenator der Stadt, Heinrich Albertz (SPD), räumte später ein, dass die Polizeiführung ihre Einheiten in diesen Tagen nicht mehr im Griff gehabt habe. Dennoch habe er es vorgezogen, den Schutz der Mauer deutschen Polizeibeamten zu überlassen - und nicht den US-amerikanischen Kräften. Diese hatten den Senat kurz nach Beginn der Krawalle aufgefordert, für Ruhe zu sorgen, um einen größeren bewaffneten Konflikt zu verhindern. Die Warnung nutzte: Auch wenn es in den kommenden Jahren immer wieder zu ungesühnten Anschlägen auf DDR-Grenzsoldaten kam, endete die heiße Phase des Kleinkriegs gegen die DDR in diesen Tagen im August.