Die Tschetschenien-Falle

Während der Westen vom russischen Establishment Verhandlungen mit Tschetschenien fordert, droht das Militär mit einer Palastrevolte.

Glaubt man dem russischen Premierminister Wladimir Putin, steckt der russische Staat in einer unangenehmen Zwickmühle. Die skizzierte der Ex-Geheimdienstler Anfang vergangener Woche in einem Brief an die norwegische Zeitung Dagbladet. Russland müsse entscheiden, was es wolle: westliche Kredite oder den Wegfall eines Teils seiner Gebiete zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, schrieb er darin. Und verteidigte erneut die Militäroffensive in Tschetschenien gegen den anschwellenden Chor der Kritik aus dem Westen: Auch um den Preis der Entfremdung vom Westen sei Russland bereit, seine Grenzen zu verteidigen.

Die von Putin aufgemachte Alternative ist für das russische Establishment wenig erfreulich, erwartet es doch Anfang Dezember die Auszahlung einer weiteren Tranche in Höhe von 640 Millionen Dollar des IWF-Kredites über insgesamt 4,5 Milliarden. Das Geld wird u.a. benötigt, um die exorbitanten Kosten des Tschetschenien-Feldzuges aufzufangen - nach Schätzungen umgerechnet etwa eine Milliarde Mark allein bis zum Ende des Jahres. Und de facto ist der russische Staat pleite.

Die westlichen Politiker beeilten sich, den Druck zu verstärken. Am Dienstag vergangener Woche traf US-Präsident William Clinton den russischen Premier in Oslo. Aus der US-Delegation hieß es, Clinton habe Putin die "unmissverständliche Haltung Washingtons" vorgetragen - Russland müsse nach einer politischen Lösung des Konfliktes suchen. Putin hingegen vertrat die Auffassung, der Krieg in Tschetschenien sei ein interner Kampf Russlands gegen den Terrorismus und solle keine Auswirkungen auf die russisch-amerikanischen Beziehungen haben.

Zuvor hatten sich einige frühere US-Verantwortliche auf dem Gebiet der so genannten Sicherheitspolitik, unter ihnen Zbigniew Brzezinski, mit einem Appell an Clinton gewandt. In einem Moment, in dem Russland auf die Zivilbevölkerung losgehe, sei es "nicht wünschenswert, der russischen Zentralregierung neue ausländische Hilfen zu gewähren, noch Kredite des IWF zu erleichtern", hieß es darin überdeutlich. Der Krieg in Tschetschenien drohe sich auf die gesamte Region auszuweiten "und beginnt, Aserbaidschan und Georgien zu bedrohen". Das ist schlecht für die westlichen Interessen, soll durch diese Länder doch die Pipeline vom Kaspischen Meer zur türkischen Stadt Ceyhan verlaufen.

Von Seiten der EU wurde der Druck auf die russische Regierung noch verstärkt. Im Bundestag wurde am Donnerstag ein fraktionsübergreifender Antrag von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP gestellt: Russland solle in Tschetschenien zur Wahrung der Menschenrechte zurückkehren, appellierten die Parteien, die im Frühjahr ebenso fraktionsübergreifend die humanitäre Bombardierung Jugoslawiens gebilligt hatten.

Putin hatte bereits zuvor der Entsendung von Beobachtern der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nach Tschetschenien und in die benachbarten Staaten zugestimmt. Die dürften mit neuen Informationen über die verheerende Situation der Tschetschenien-Flüchtlinge dafür sorgen, dass der OSZE-Gipfel, der am kommenden Wochenende in Istanbul stattfinden soll, im Zeichen des Tschetschenien-Krieges stehen wird.

Die Haltung des Westens gegenüber der russischen Regierung hat sich seit dem ersten Tschetschenien-Krieg geändert. Damals hatte der Westen verständnisinnig reagiert, weil er auf den Hoffnungsträger Boris Jelzin setzte - nach dem Motto: "Wir schauen beiseite, aber klärt den Schlamassel so schnell, effizient und leise wie möglich." Das hatte mit der Realität der in Tschetschenien aufgehäuften Leichenberge zwar nichts zu tun, entsprach aber den westlichen Interessen.

Mittlerweile aber ist Jelzin in den Augen des Westens derjenige, der die von den "Chicago Boys" so schön geplanten Reformen verbockt hat, in ein undurchsichtiges Netz von Korruption und persönlicher Bereicherung verstrickt ist und ab dem kommenden Sommer ohnehin nicht mehr Präsident sein wird.

In der russischen Innenpolitik sorgte der Druck des Westens für einigen Aufruhr. Am Mittwoch letzter Woche erklärte Verteidigungsminister Igor Sergejew vollmundig, Russland plane "nicht nur die Stadt Grosny von Terroristen zu befreien, sondern ganz Tschetschenien". Ein Sturm auf Grosny sei aber nicht vorgesehen. "Die Armee weiß, dass niemand sie aufhalten wird. (...) Die Unterstützung der Regierung und insbesondere die des Präsidenten sind garantiert", fügte er hinzu. Gewertet wurde dies als Signal, dass der russische Staat die Kontrolle über ganz Tschetschenien zurückerlangen wolle, ohne allzu große Verluste im städtischen Straßenkampf gegen die islamistischen Rebellen zu riskieren.

Ebenfalls am Mittwoch brach Präsident Boris Jelzin abrupt seinen Urlaub am Schwarzen Meer ab und kehrte nach Moskau zurück. Ausschlaggebend dafür waren vielleicht die westlichen Forderungen nach Verhandlungen, möglicherweise aber auch eine andere Entwicklung: eine drohende Palastrevolte russischer Militärs.

Davon ging zumindest die russische Tageszeitung Moskovsky Komsomolez aus - unter Berufung auf Jelzin nahe stehende Kreise. Nach bis zum Wochenende unbestätigten Angaben des Blattes hat der russische Generalstabschef Anatoli Kwaschnin mit Rücktritt gedroht, sollten Mitglieder der Jelzin-Administration ihre Fühler ausstrecken, um - wie vom Westen gefordert - Verhandlungen mit dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow aufzunehmen. Und nicht nur Kwaschnin würde zurücktreten, sondern auch eine "lange Liste von Generälen, die auf dem Boden Tschetscheniens kämpfen".

Noch schärfer äußerte sich General Wladimir Schamanow, Kommandeur der Westgruppe der russischen Streitkräfte in Tschetschenien, gegenüber der Nezawisimaja Gazeta. Er warnte vor einer "möglichen Einmischung von Politikern in militärische Operationen". Das "Offizierskorps Russlands wird einen weiteren Schlag ins Gesicht nicht hinnehmen", sagte er. "Manche denken sogar, mit einer solchen Wendung der Ereignisse würde das Land an den Rand des Bürgerkriegs gedrängt werden."

Zwar bestritt der stellvertretende Armeechef Manilow am Freitag einen Riss zwischen Kreml und Militär. "Alles, was über einen möglichen Rücktritt Kwaschnins und diese so genannten Differenzen zwischen der politischen Führung und dem Militär geschrieben wurde, ist Lüge, Verleumdung und Desinformation", sagte Manilow.

Andere aber sehen das anders. Die St. Petersburg Times zitierte am Freitag Dimitri Trenin, Militäranalyst am Moskauer Carnegie Center: "Das Militär ist entschlossen, bis zum Ende zu gehen, und es sieht so aus, als ob die Politiker nicht in der Lage wären, es zu stoppen." Und weiter: "Die Regierung ist zu schwach, den militärischen Plänen Einhalt zu gebieten, während Putins Popularität weitgehend von dieser Kampagne abhängt."

Tatsächlich ist Putins Popularitätskurve mit jedem Kriegstag gestiegen. Und in westlichen Medien wird der Tschetschenien-Krieg schon als seine Plattform für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr bezeichnet. Jelzin hat Putin zu seinem Nachfolger auserkoren - mit dem Ziel, dass er als Präsident seine schützende Hand über Jelzin und dessen Entourage, die "Familie", halten soll. Aber je populärer Putin wird, desto leichter könnte er auch einem Eifersuchtsanfall Jelzins zum Opfer fallen und als Premier entlassen werden. Insbesondere, wenn der Westen mehr oder minder unverhohlen den Kopf des Ex-Geheimdienstlers fordert.

Aber selbst wenn der Kreml zu Verhandlungen mit dem tschetschenischen Gegner bereit wäre, ergäben sich Probleme. Der tschetschenische Präsident Maschadow, der am Sonntag in einem Brief an Clinton den US-Präsidenten aufforderte, den "Völkermord im Kaukasus" zu verhindern, hat seit 1996 gegenüber den Warlords Bassajew und Khattab permanent an Macht verloren. Selbst wenn er wollte, könnte er sie kaum kontrollieren. Und die Warlords scheinen nun die Chance zu wittern, Russlands Einfluss im Kaukasus ein für alle Mal zu brechen.