Plebiszit für den Führer

Festung Europa, starker Staat, völkische Einheit - Die Ideologie der europäischen Rechten.

Gegen die EU, aber für Europa" - auf diese Formel könnte sich die extreme Rechte in allen europäischen Staaten wohl einigen. Ob ihre Parteien bei Wahlen gewinnen wie in der Schweiz, Österreich, Belgien oder Norwegen, ob sie stagnieren oder verlieren wie in Deutschland, Frankreich und Italien, erfolgreich sind sie allemal: Immer mehr ihrer Forderungen werden von Regierungsparteien in den jeweiligen Nationalstaaten oder auf europäischer Ebene übernommen und umgesetzt.

"Wir sind für Europa, für die Grenzniederlegungen zwischen unseren Staaten, unter der Bedingung, dass die Grenzen zwischen Europa und dem Rest der Welt tatsächlich aufrecht erhalten werden." So formulierte der damalige Chefideologe des französischen Front National (FN) und heutige Führer des vom FN abgespaltenen Mouvement National, Bruno Mégret, bereits 1988 seine Zustimmung zur Festung Europa.

Mégrets Ehefrau Catherine, Bürgermeisterin der südfranzösischen Stadt Vitrolles, wurde verurteilt, weil sie eine Geburtsprämie einführen wollte, von der vor allem nordafrikanische Immigranten nicht hätten profitieren können, Bürger anderer EU-Staaten dagegen sehr wohl.

Fast alle europäischen Fraktionen des Rechtsextremismus setzen auf Europa als Kampfbegriff: Rufen die einen zur Verteidigung eines "christlichen Abendlandes" auf, fordern die anderen einen kontinentalen Unabhängigkeitskampf gegen die "raumfremde" Macht USA. Die Anstrengungen der europäischen Staatschefs, die EU samt Hinterhof im Osten als Weltmacht zu festigen, können durchaus kompatibel mit dem Anti-Amerikanismus der extremen Rechten sein.

Die neofaschistische Ideologie einer "Nation Europa", die sich zur dritten Weltmacht aufschwingt, geht auf den britischen Nazi Oswald Mosley zurück, der sich damit bereits 1948 an die Reorganisation einer braunen Internationalen machte. Die strategische Bezugnahme auf Europa im neofaschistischen Projekt knüpft an die Nazi-Propaganda von der SS als "Vorkämpfer für das vereinte Europa" und der deutschen Aggression als "Kampf für die Freiheit Europas" (Jörg Haider) an.

So einig sich die extreme Rechte über das Ziel der "Nation Europa" ist, so groß sind die Differenzen über deren Binnengestaltung: Während die politischen Führer ein "Europa der Vaterländer" hochhalten, strapazieren die Ideologen mal die Regionen, mal das Reich. Einig ist man sich in der Ablehnung der europäischen Institutionen und in der Bedrohung des jeweiligen "Vaterlandes": "10 000 Immigranten sind in Ordnung", konzedierte 1997 Umberto Bossi, Chef der italienischen Lega Nord. "Aber wenn es zehn Millionen werden, ist das eine Katastrophe." Seine Lösung: Einweisung aller illegalen Immigranten in Arbeitslager.

Obwohl sich dieser Rassismus in der Wahl der Mittel kaum von seinen historischen Vorläufern unterscheidet - die offene Propagierung fehlt noch -, gibt es inhaltlich Unterschiede: Das Subjekt ist nicht mehr der "Arier", sondern der "Inländer" als Produkt ideologischer Zuschreibungen und materieller Zuweisungen. Zwar wird nach wie vor der Gegensatz "Inländer - Ausländer" überlagert von den klassischen rassistischen Vorstellungen. Seine Energie bezieht er jedoch aus den aktuellen Diskursen über Migration, die erfolgreich mit der sozialen Frage verknüpft werden.

Materielle Ressourcen, politische Rechte und soziale Sicherheit werden mit der "Abstammung" verknüpft: Eine Ethnisierung des Sozialen. Die sich verstärkenden sozialen Widersprüche werden auf eine andere Diskursebene - das "Ausländerproblem" - verlagert und dort "gelöst". Vor diesem Hintergrund hat sich die Wandlung europäischer Rechtsparteien von kleinbürgerlich-mittelständischen Protestbewegungen zu "Arbeiterparteien" - zumindest der Zusammensetzung ihrer Wählerschaft nach - vollzogen.

Da scheint der Hinweis auf den sozialen Gehalt des Rechtsextremismus oder seine millionenschweren Führer hilflos: Die Bindung der so genannten kleinen Leute an die neuen Autoritäten im Moment der Rebellion gegen die alten ist nicht von der bewussten Wahrnehmung sozialer Interessen geleitet, sondern von der charakterlichen - das heißt autoritären - Disposition der Ohnmächtigen.

Rechtsextreme Kader und Gruppen sind in diesen Diskursen nur Akteure neben anderen - zu nennen ist insbesondere der Nationalstaat in seiner Doppelrolle als institutionalisierte Gewalt und ideologische Macht. Auf diesen Staat, auf seine imaginierte Stärke, Souveränität und ethnische Homogenität bezieht sich der moderne Rechtsextremismus. Während überall die Rede ist von "Sachzwängen", suggeriert er die Möglichkeit von Politik. Je schwächer die Staaten als deren Akteure werden, desto lauter werden die Forderungen nach ihrer Stärkung.

Es geht dabei weniger um die ökonomischen Funktionen der Staaten - im Unterschied zum Neofaschismus herrschen im modernen Rechtsextremismus gelegentlich neoliberale Konzepte vor - als um deren repressive Aufgaben. "Politik" bedeutet im Rechtsextremismus vor allem die Garantie der "Inneren Sicherheit", systematische Abschottung und die Durchsetzung außenpolitischer Interessen.

Immer wird Politik herrschaftlich gefasst, nie als Zusammenspiel unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen. Rechtsextremisten möchten den Nationalstaat nicht nur ethnisch "rein" halten, sondern auch autoritär nach innen befestigt wissen. Denn der ersehnten Homogenität droht Gefahr nicht nur von außen: Im Inneren spalten Interessenkämpfe und Pluralismus jene Bezugsgröße, die bei den Nazis "Volksgemeinschaft" hieß.

Die "nationale Identität", die von den neuen Führern angeführt wird, meint also nicht nur die Gemeinsamkeit in der so genannten Abstammung, sondern auch die in der kollektiven Unterwerfung unter die Führer. Dabei wird der Schein der Gleichheit inszeniert. Dieser integrale Nationalismus schmeichelt dem vielfältig gekränkten Ich der "kleinen Leute".

Ein offenes Eintreten für eine faschistische Diktatur braucht es trotz der rechtsextremen Gegnerschaft zur liberalen Demokratie nicht. Vielmehr halten die neuen Führer, die sich als die wahren Repräsentanten des "Volkswillens" darstellen, Modelle der direkten Demokratie hoch. In der plebiszitären Führerdemokratie, die sie anstreben, wird auf der Basis eines vermeintlich homogenen Volkes eine Identität von Regierenden und Regierten behauptet. Der Prozess der politischen Willensbildung erschöpft sich als Abfolge von Entscheidung und Zustimmung.

Anknüpfend an reale Missstände in repräsentativen Parteiendemokratien organisieren und verstärken Rechtsextremisten das Ressentiment gegenüber anderen Parteien und Interessengruppen. Dabei stellen sich die rechten Parteien als "Bewegungen" und die neuen Führer als Anti-Politiker oder Volkstribunen dar: So erklärte letztes Jahr in der Schweiz SVP-Chef Christoph Blocher: "Nicht dem Parlament, nicht der EU, nicht Herrn Bronfman (als Synonym für den Jüdischen Weltkongress; H.S.) und nicht den Medien" gegenüber müssten sich Politiker verantworten, sondern vor dem "Volk".

Trotz dieser Gemeinsamkeiten konnte sich der moderne Rechtsextremismus bis heute nur schwer zu einer länderübergreifenden Bewegung auswachsen. Die nationalen Beschränktheiten, welche die extreme Rechte in Europa gegen die EU und den Euro agitieren lassen, verhinderten bis heute die Ausbildung eines "europäischen" Rechtsextremismus. Weder will Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg so recht funktionieren, noch kommt eine gemeinsame und kohärente Ideologie zu Stande.

Geht es um Tagespolitik, werden die Unterschiede bei den Strategien der Machtergreifung und im Grad der Radikalität noch deutlicher. Während sich alle europäischen Rechtsparteien als "Protestbewegungen" geben, versuchen doch einige (vor allem in der Schweiz und Österreich) mit Blick auf bürgerliche Koalitionspartner, staatstragend zu wirken.

Und je aufgeschlossener sich die konservativen Parteien gegenüber dem rechtsextremen Angebot zeigen, desto gemäßigter geben sich auch die neuen Führer. Werden rechtsextreme Parteien zum innenpolitischen Faktor - was häufig von einem charismatischen Führer und Gemeinschaftsbildner abhängt -, so entscheidet das Verhalten der Konkurrenten über die weitere Dynamik. Dass die Einverleibung und Exekution rechtsextremer Programme ihre VerfasserInnen stärkt, zeigt das österreichische Beispiel.

Die Versuche rechtsextremer Intellektueller, Europa im Rückgriff auf (prä)faschistische Ideologen zu rekonstruieren, waren bislang nicht erfolgreich. Aber die faschistische Ideologie der "Festung Europa" hat bereits heute eine Entsprechung auf der Ebene eines gesamteuropäischen Migrationsregimes. Der nationalstaatliche Rassismus scheint sich zu einem "europäischen" zu transformieren.

Heribert Schiedel ist Mitarbeiter im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW).