Alternative Lebensformen

Verwirrende Erlebnisse

Beim DGB geht es manchmal heiß her. Besonders, wenn im Gewerkschaftshaus Sex-Filme aus der DDR gezeigt werden. Natürlich unter dem Deckmantel der Kommunikation. Man wolle mit der Jugend in Kontakt kommen, heißt es. Und die Jugend interessiert sich nun mal für Sex, nicht für den DGB. Die meisten Jugendlichen im Saal wissen nicht einmal, wofür die Abkürzung steht. "Das hat sich unser Lehrer ausgedacht", sagt Thomas. "Und jetzt ist der Behr nicht mal gekommen. Das wird bestimmt sehr uncool."

Ich bin da anderer Meinung. Für mich hat es beim DGB nämlich schon sehr lustig angefangen, als ich am Pinkelbecken einen Gewerkschaftler über die Trennwand hinweg angesprochen habe. "Hallo", habe ich freundlich gesagt. Er war so verdutzt, dass er einfach mittendrin aufgehört hat. So sind sie, die Gewerkschaftler. Sie mögen keine Intimität.

Besonders die Jugend ist ihnen suspekt. Deshalb sitzen sie im Saal getrennt - die alten Gewerkschaftler vorne, die Jugendlichen hinten. Das kennt man von Geschichtsvorlesungen. Da sitzen die Seniorenstudenten auch immer in den ersten Reihen, damit sie den Professor besser hören können. Hier spricht aber kein Prof. Dr. Dr., sondern Dieter Schulte, Bundesvorsitzender des DGB.

"Wir waren alle mal jung", sagt er. Einstimmiges Nicken der Halbglatzen, die Tonsur schimmert im Scheinwerferlicht. Und jetzt kommt's: "Auch für die, die vor siebzig bis achtzig Jahren jung waren." Zahlen schießen mir durch den Kopf. Siebzig bis achtzig Jahre, Jugend, eine Zeit zwischen 19 und 20. Alle schauen sich um, niemand fühlt sich angesprochen, bis Schulte selbst auf einen Mann in der ersten Reihe hinweist. Ein Ehrenmitglied des DGB, was sonst.

Was folgt, ist eine dröge Analyse: "Arbeitslosigkeit wird gesellschaftlich als individuelles Versagen gesehen." "Ich hab's gewusst", sagt Thomas neben mir. "Gleich erzählt er, wie toll und wichtig arbeitslose Jugendliche sind." Was Schulte sagt, kommt seiner Vermutung sehr nahe: "Jugendliche sind nicht nur Skinheads oder Anhänger der Spaßgesellschaft."

Spaß würde der Veranstaltung ganz gut tun. Das haben sich die Initiatoren wohl auch gedacht und aus DDR-Propagandafilmen, Reportagen und Interviews ein Video zusammengeschnitten. Als Schulte abtritt, bemerke ich, dass sein Reißverschluss auf ist. Zum Glück geht das Licht aus und der Film fängt an. Es geht um die "ersten verwirrenden Erlebnisse" junger Menschen, die sich beim Duschen die Hosen ausziehen und sich gegenseitig im Genitalbereich berühren. Aufklärung tut not, findet der Sprecher. Eine Aufgabe, die der Staat übernehmen muss. Väterchen Eunuch (Walter Ulbricht) sieht das in einem Interview ganz positiv und lässt mit seiner hohen Stimme verlauten: "Wenn also die Jugend weiter ihre Körperkultur betätigt, dann wird es gut vorwärts gehen."

Nach dem Film soll noch eine "fruchtbare, kurzweilige Diskussion" folgen - u.a. über die Gewerkschaftsjugendarbeit von 1989. Als ob das nicht schon langweilig genug wäre, muss jeder auch noch seine Mauergeschichte erzählen. Ich verlasse den Saal und merke, dass ich schon wieder pinkeln muss. Neben mir steht ein alter Bekannter. "Hallo", sage ich wie beim letzten Mal freundlich. Er will schon wieder abhauen, aber offenbar ist der Druck diesmal zu groß. Er lächelt verkrampft und sagt: "Kaffee treibt." Ich nicke. Bier auch.