Verhandeln statt Abstrafen

Die Auseinandersetzungen über neue Umwelt- und Sozialstandards bei der WTO können nur zu einem Kompromiss führen. Und der ist allemal besser als ein Scheitern der Verhandlungen.

Wenn sich in dieser Woche die Delegationen der 134 Mitgliedsländer der Welthandelsorganisation WTO in Seattle treffen, werden sie sich mit einigen ungewohnten Themen beschäftigen müssen. Unter den Augen einer misstrauischen und wachsamen Protestbewegung sollen neue Vertragsverhandlungen zur Liberalisierung des Welthandels gestartet werden. Die gestiegene Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten der WTO hat schon jetzt politische Folgen: Vor allem in den Industrieländern muss die politische Unterstützung für neue WTO-Verhandlungen mit ein wenig "Zucker für die NGOs" erkauft werden.

Die fünf Jahre alte Nachfolgerin des Allgemeinen Handelsabkommens Gatt hat sich als konspirativ arbeitende Super-Organisation entpuppt, die die Interessen von ArbeiterInnen und den Umweltschutz den multinationalen Konzernen opfert - so lautet der Generalvorwurf. Viele Forderungen von NGOs, Gewerkschaften, Umweltschützern und Menschenrechtlern - etwa die Verankerung von sozialen Mindeststandards und internationalen Umweltschutzregelungen - haben es auf die Liste der möglichen Verhandlungsagenda der "Millenniums-Runde" geschafft.

Unterstützung erhalten die Lobbygruppen für "fairen" Handel inzwischen sogar von der Europäischen Union (vor allem auf Betreiben der rot-grünen Bundesregierung) und den USA. Zum Ärger der Entwicklungsländer haben die beiden in der WTO tonangebenden Handelsmächte die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zum Thema "Handel und Arbeit" vorgeschlagen. Die WTO dürfe dem "Sozialdumping" nicht länger zusehen, findet auch die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer. Wenn schon die vollständige Durchsetzung von sozialen Mindeststandards in der WTO nicht möglich sei, müsse man eben deren Einhaltung mit Handelsvorteilen belohnen und bei krassen Verstößen auch Sanktionen verhängen.

Sind die WTO-Verträge tatsächlich so mies wie ihr Ruf? Zumindest sind sie ziemlich einseitig. Zwar sind detailreiche Regelungen zu Zollsenkungen, der Streichung von Importvorschriften oder dem Schutz von Patentrechten enthalten. Der Umweltschutz oder die Menschenrechte finden allerdings fast nur in der Präambel Erwähnung.

Auch die Urteile des WTO-Schiedsgerichts haben nicht überall für Begeisterung gesorgt. Den Zorn vieler Umweltschützer beispielsweise haben die Richter auf sich gezogen, weil sie mehrmals Import-Vorschriften einkassiert haben, die umweltgerechte Produktion belohnen sollten. Ein US-amerikanisches Importverbot für Tunfische, die nicht mit "Delfin-freundlichen" Netzen gefangen wurden, haben die Richter als nicht WTO-kompatibel abgelehnt. Ebenso wurde den USA ein Importstopp für Garnelen untersagt, bei deren Fang übermäßig viele Meeresschildkröten getötet werden. Die Liste der "unerwünschten Nebenwirkungen" des liberalen Welthandelsrechts der WTO ließe sich fortsetzen.

Die Negativ-Schlagzeilen aus fünf Jahren WTO und fünfzig Jahren Gatt füllen Bände und scheinen Grund genug, den Verursacher an die Kette zu nehmen. Alternativ könnte man den ganzen Laden vielleicht einfach dichtmachen. "Es gibt kein isoliertes Problem, seien es hormonbehandelte Rinder oder Bananenimporte, gefährdete kulturelle Vielfalt oder Patentierbarkeit von Lebewesen. Es gibt nur ein Problem namens WTO", schreibt Susan George in Le Monde diplomatique.

Doch die Abschaffung der WTO wird auch eine noch so große und bunte Demo in Seattle nicht erreichen. Die Lobbyisten bei den Gewerkschaften und Umweltverbänden zumindest haben sich für die realpolitisch näher liegende Forderung entschieden: die ökologische Reform des WTO-Rechts und die Einführung von sozialen Mindeststandards. Und seit der erfolgreichen Kampagne gegen das Investitionsabkommen MAI sind die NGOs im Aufwind. Eine entschärfte Variante der NGO-Forderungen landet als Diskussionsvorlage auf den Konferenztischen in Seattle.

Die Forderung nach sozialen und umweltpolitischen Mindeststandards bei der WTO ist allerdings auch das Ziel von Kritik. Vor allem die Regierungen der Entwicklungsländer wehren sich gemeinsam mit den dortigen NGOs gegen das "Diktat der Industrieländer". Statt dem Süden ihre Präferenzen zu oktroyieren, sollten sie tatsächliche Freihandelspolitik betreiben und ihre Märkte stärker für Exporte aus den Entwicklungsländern öffnen.

Dass diese Kritik gegenüber den Vorschlägen für eine WTO-Reform Vorrang hat, wird auch von Freihandels-Theoretikern unterstützt. Wer sich über die miesen Arbeitsbedingungen und schlechten Löhne in Entwicklungsländern aufregt, solle sich die Alternativen vor Augen halten, findet beispielsweise der US-Ökonom Paul Krugman: Oft bliebe nur die Subsistenzwirtschaft und ein noch niedrigerer Lebensstandard.

Tatsächlich ist auffällig, dass die Einführung von Mindeststandards im Welthandelsrecht für die WTO vor allem von den reichen Industrieländern gefordert wird - oft ohne Rücksicht auf die Interessen anderer Länder. Dies muss allerdings nicht unbedingt am Protektionismus liegen - die Problemwahrnehmung ist in reichen Ländern eben eine andere als dort, wo die Armutsbekämpfung Vorrang haben muss. Darf man den Import von hormonbehandeltem Fleisch oder genetisch manipulierten Nahrungsmitteln verbieten, wenn man ein Risiko für die Gesundheit befürchtet? Dürfen Umweltabkommen notfalls mit Handelssanktionen durchgesetzt werden?

Dies sind einige der Fragen, deren Klärung Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und neuerdings auch einige Regierungen aus den reichen Industriestaaten verlangen und die in den WTO-Verträgen kaum beantwortet werden. Und es sind Fragen, die nicht einfach als Detailprobleme der reichen Länder abgetan werden können. Aber soll die Beantwortung allein den USA oder der EU überlassen werden?

Klar ist, dass die nationalen Regierungen mit der Unterzeichnung des WTO-Vertrages auf das Recht verzichtet haben, souverän und im Zweifel allein dem Wohl des eigenen Landes verpflichtet zu handeln. Die Klage über diesen Verzicht auf nationale Souveränität zugunsten der WTO ist es auch, was viele rechte und linke Globalisierungskritiker eint (Jungle World, 47 / 99).

Eine Welthandelspolitik zu verhindern, in der allein die großen Wirtschaftsmächte die Regeln bestimmen, ist eine der Aufgaben der WTO. Statt unilateralen Aktionen sollen multilaterale Regeln in der Welthandelspolitik gelten. Zwar werden auch bei der WTO die Spielregeln von den großen Industrieländern bestimmt. Man muss aber ein - vielleicht etwas hoffnungsvolles - "noch" einfügen. Es fällt den USA, Europa oder Japan zunehmend schwer, sich intern auf gemeinsame Strategien zu einigen und die anderen Mitgliedsstaaten vor vollendete Tatsachen zu stellen. Unter den 134 Mitgliedsländern sind etwa 100 Entwicklungsländer. Indien und bald auch China vertreten grundsätzlich andere Interessen als etwa die USA oder die EU. Wenn der Start einer neuen WTO-Verhandlungsrunde in dieser Woche scheitert, dann wird dies zu einem großen Teil am Widerstand der meisten Entwicklungsländer liegen.

Vereinbarungen bei der WTO zu sozialen und ökologischen Fragen hätten einen großen Vorteil: Die Definitionsmacht für eine Weltordnungspolitik, wie sie vielen (rechten und linken) Globalisierungsgegnern vorschwebt, würde aus dem Weißen Haus, dem Bundeskanzleramt oder der DGB-Zentrale hinein in den Konferenzsaal einer multilateralen Organisation verlagert, in der mehr als zwei Drittel aller Regierungen vertreten sind.

Eine an klare Regelungen geknüpfte Umsetzung von Umweltschutz und Menschenrechten träte an die Stelle von Handelskriegen und unilateraler Erpressung. Die von weltweiten Umwelt- und Sozialstandards am stärksten betroffenen Länder könnten für ihre Zustimmung - fairerweise - ausgleichende Zugeständnisse des Nordens einfordern.

Ein Kompromiss bei der WTO über die "neuen Themen" in der Welthandelspolitik wäre besser als die wahrscheinliche Alternative: das Scheitern. Das führte dazu, dass weitergemacht würde wie bisher: Liberalisierung und das Delegieren von Verantwortung für die Folgen der Globalisierung an die halbblinden und unsichtbaren Marktkräfte. Oder die Menschenrechts- und Weltumweltpolitik wird von den Regierungen der Industriestaaten gemacht, die - den jeweiligen taktischen Erwägungen gehorchend - auf die Unterstützung von Gewerkschaften und Umweltschützern setzen.

Ein Kompromiss der WTO bei den Umwelt- und Sozialstandards könnte beides verhindern: Den Marktradikalismus pur und auch eine Weltordnungspolitik nach dem Gutdünken der größten Handelsmächte.