Mitten ins Schwarze

Die Welthandelskonferenz in Seattle ging ergebnislos zu Ende. Die WTO scheiterte an internen Streitigkeiten und an ihren Gegnern auf der Straße.

Die Augen von Mike Moore waren schwarz umrandet, als er seine Bilanz der Welthandelskonferenz in Seattle präsentierte. Ein »bemerkenswertes Treffen« sei es gewesen, sagte der Generaldirektor der Welthandelsorganisation (WTO), viel sei bei den Verhandlungen erreicht worden, nichts davon werde verloren gehen.

Ein merkwürdiges Resümee. Denn kurz zuvor, am vergangenen Freitag um 22 Uhr, war die Konferenz ohne Ergebnis beendet worden. Vier Tage lang hatten sich die Delegierten aus den 135 Mitgliedsländern erfolglos bemüht, eine gemeinsame Erklärung zu verfassen, die eine neue umfassende Verhandlungsrunde einläuten sollte. US-Präsident William Clinton selbst hatte noch am letzten Tag einen Anlauf unternommen, um ein Scheitern der Konferenz zu verhindern. Per Telefon sprach er mit Japans Premierminister Keizo Obuchi und EU-Kommissionspräsident Romano Prodi - umsonst.

Der WTO-Generaldirektor, die US-Handelsbeauftrage Charlene Barshefsky sowie die EU-Kommissare für Handel und Landwirtschaft, Pascal Lamy und Franz Fischler, versuchten daraufhin, das Scheitern der Konferenz als »Auszeit« darzustellen. Ohne ein Datum zu nennen, erklärte Barshefsky, dass die Verhandlungen zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden. Ob dies jemals gelingen wird, ist ungewiss. Denn das Desaster in Seattle war mehr als nur eine vorübergehende Panne.

Für das Scheitern lassen sich gleich mehrere Gründe finden. Erstens hatten sich in den letzten drei Monaten die WTO-Unterhändler in Genf nicht auf einen ausgereiften Entwurf für eine Abschlusserklärung einigen können. Den Verhandlungsdelegationen war bereits im Vorfeld klar, dass nur unter grössten Anstrengungen in Seattle ein Konsens gefunden werden konnte. Zweitens gab es in einigen Kernbereichen trotz intensiver Verhandlungen unüberbrückbare Gegensätze.

Erbittert wurde beispielsweise über eine Formulierung gestritten, die reduzierte Exportbeihilfen für Agrarprodukte festlegen sollte. Die Europäer, angeführt von der französischen Delegation, wehrten sich mit allen Mitteln gegen eine deutliche Einschränkung der EU-Subventionen. Die USA und Länder wie Australien und Argentinien beharrten hingegen auf einem konsequenten Abbau.

Der Süden wird abgeschoben

Vor allem aber waren etliche Entwicklungsländer über den Ablauf der Verhandlungen verärgert. Bereits einen Tag vor Ende der Konferenz erklärten Mitgliedsländer der Organisation für afrikanische Einheit (OAU), dass sie wegen der undurchsichtigen Verhandlungsführung einer gemeinsamen Abschlusserklärung nicht zustimmen könnten. Die Entwicklungsländer würden auf der Tagung an den Rand gedrängt. Zahlreiche karibische und lateinamerikanische Staaten schlossen sich dieser Stellungnahme an.

Viele Delegierte aus dem Süden spazierten an den letzten beiden Tagen des Treffens durch die Gänge des Kongresszentrums, während die führenden Wirtschaftsnationen und die meisten Schwellenländer informelle Treffen abhielten, um doch noch einen abstimmungsreifen Entwurf zu formulieren. Diese so genannten Green Room Meetings - wie die Treffen in Anlehnung an die grün tapezierten Verhandlungsräumen beim WTO-Sitz in Genf genannt werden - hatten schon bei der ersten WTO-Konferenz in Singapur 1996 viele Vertreter aus Entwicklungsländern verärgert. Damals hatten die Industrieländer Besserung gelobt.

Aber auch diesmal waren die Länder aus dem Süden von wichtigen Treffen ausgeschlossen und mehrmals wurde ihren Delegierten der Zutritt zu den informellen Treffen verweigert. Am Freitagmorgen wurde die US-Chef-Unterhändlerin sogar von einigen Vertretern der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Länder ausgebuht.

Black Ninja Turtles

Die WTO-Konferenz scheiterte jedoch nicht nur an internen Streitigkeiten, sondern auch an ihren Gegnern außerhalb des Tagungsortes. Über 40 000 Demonstranten beherrschten zeitweise die Straßen von Seattle. Diese Proteste - und vor allem das daraus resultierende Organisationschaos - hatte zu erheblichen Verzögerungen der Verhandlungen geführt.

Als am vergangenen Dienstag die Konferenz eröffnet werden sollte, ereignete sich ein Novum in der Geschichte der WTO. Bereits am frühen Morgen hatten sich einige Tausend Demonstranten versammelt, die anschließend in die Innenstadt zogen, um dort das Konferenzgebäude sowie einige Hotels zu blockieren. Nur wenige Delegierte gelangten pünktlich zur geplanten Eröffnungsfeier in das beim Kongresszentrum gelegene Paramount Hotel. Selbst Uno-Generalsekretär Kofi Annan und die US-amerikanische Außenministerin Madeleine Albright konnten nicht ihr Hotel verlassen. WTO-Generalsekretär Moore musste die Eröffnungsfeier kurzerhand absagen und bekam seine ersten Augenringe.

Doch nicht nur Demonstranten, auch die Polizei versperrte den Weg zum Seattle Convention Center. So verweigerten Beamte in schwarzer Kampfuniform - von den Demonstranten als Black Ninja Turtles oder Darth Vaders bezeichnet - etwa der luxemburgischen Außenministerin den Zutritt. Diese dachte daraufhin laut darüber nach, ob es nicht vielleicht besser wäre, sich in die Kette der Demonstranten einzureihen.

Wenig später demonstrierten mehrere Zehntausend WTO-Gegner in der Innenstadt: Gewerkschafter, die höhere Sozialstandards forderten, Umweltschützer und Dritte-Welt-Aktivisten, Bürgerinitiativen gegen Gentechnik und für Verbraucherschutz, Aktionsgruppen und militante Gegner des Kapitalismus.

Im Laufe der Demonstration setzte die Polizei zunehmend Pfefferspray, Tränengas und Gummigeschosse ein. Einige Demonstranten warfen Fensterscheiben ein, Müllcontainer wurden angezündet, Fast-Food Ketten wie McDonald's und Luxusgeschäfte geplündert. Die meisten Demonstranten blieben jedoch friedlich.

Am Abend verhängte der Bürgermeister von Seattle eine Ausgangssperre für die Nacht, die bis zum letzten Konferenztag aufrechterhalten wurde. Nur Delegierte und akkreditierte Vertreter der Presse und von Nichtregierungsorganisationen konnten mit ihren Ausweisen in die Innenstadt gelangen.

»Diejenigen, die gegen die Eröffnung des WTO-Gipfels demonstrierten, haben ihr Ziel erreicht«, erklärte Seattles Polizeichef Norman Stamper nach der »Battle of Seattle«, die in der US-Presse als größte Demonstration seit Ende der sechziger Jahre bezeichnet wurde. Er gab auch offen zu, dass es zu Übergriffen seiner Beamten gegen die Demonstranten gekommen war.

Am zweiten Tag der Konferenz änderte die Polizei ihre Taktik. Bereits gegen Mittag waren über 400 Protestteilnehmer verhaftet worden. Mittlerweile hatte Stamper 300 zusätzliche Beamte sowie 150 Soldaten der Nationalgarde angefordert. Am letzten Tag der Konferenz forderte eine Demonstration vor dem lokalen Gefängnis die Freilassung der mehr als 600 inhaftierten WTO-Gegner. Die Nachricht vom Scheitern der Verhandlungen wurde von ihnen mit Jubel und spontanen Freudentänzen aufgenommen.

Biotech gegen Agrarsubventionen

Sichtlich enttäuscht vom Scheitern der Verhandlungen waren hingegen sowohl die Delegierten aus den Industrie- und Schwellenländern wie auch die Vertreter der großen multinationalen Konzerne und ihrer Lobbyorganisationen. Die Vertreter der Umweltverbände und Dritte-Welt-Gruppen liefen währenddessen mit strahlenden Gesichter durch das Konferenzgebäude. Sie wiesen darauf hin, dass die WTO durch die Ereignisse endlich in der Öffentlichkeit bekannt wurde.

Die Debatte über die sozialen und ökologischen Folgen wirtschaftlicher Globalisierung und des Freihandels würde nun intensiviert. »Die oft als unbeeinflussbar bezeichnete Globalisierung ist heute auf ein nicht zu beseitigendes Hindernis gestoßen: Basisdemokratie«, erklärte Lori Wallach, Direktorin der US-amerikanischen Bügerinitiative Global Trade Watch.

Für die Umweltverbände und Dritte-Welt-Gruppen aus den Industrieländern hat die geplatzte Konferenz einige negative Entwicklungen verhindert. So hatte die EU-Kommission - entgegen früherer Absichtserklärungen - beispielsweise Verhandlungen über Biotechnologie und damit über den Handel mit gentechnisch veränderten Organismen nicht mehr ausgeschlossen. Nicht nur Umweltorganisationen kritisierten diesen Sinneswandel, auch die Umweltminister von Großbritannien, Italien, Dänemark, Belgien und Frankreich hatten sich in einer Erklärung gegen die Position der EU-Kommission ausgesprochen.

Im EU-Entwurf für eine Abschlusserklärung fand sich auch eine Formulierung, die ein Entgegenkommen der EU bei der von den USA geforderten beschleunigten Reduzierung von Zöllen für Holz und Holzprodukte bedeutete hätte. Das von Kritikern auch als »Global free logging agreement« bezeichnete Abkommen hätte verschiedenen Studien zufolge zu einem Anstieg des weltweiten Holzverbrauchs geführt.

Offensichtlich versuchte die EU, über Zugeständnisse in den Bereichen Biotechnologie und Forstwirtschaft das Thema Investitionen auf die Agenda zu setzen und größere Zugeständnisse im Agrarbereich zu verhindern. Die Forderung nach einem multilateralen Umweltabkommen und einer Klimakonvention wurde wiederum von den USA unmissverständlich abgelehnt.

»Die Gewalt, die man auf der Straße beobachten konnte, ist nichts im Vergleich zur Gewalt gegen die Umwelt und den Menschen«, erklärte die grüne Europaabgeordnete Claude Turmes am Ende der Konferenz. Umweltthemen würden bei der EU als reine Verhandlungsmasse gesehen, um eigene Forderungen durchzusetzen.

Abkehr vom Konsensprinzip

Ähnlich gelagert ist aber auch das Thema Arbeits- und Sozialstandards, wobei sich gerade US-Präsident Clinton im Vorfeld für dieses Thema stark gemacht hatte. Der amerikanische Präsident war während der Konferenz für zwei Tage nach Seattle gekommen, weniger für eine Teilnahme bei den Verhandlungen als um bei den US-Gewerkschaften für den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore zu werben.

In einer Rede vor Gewerkschaftern forderte Clinton jedoch - über den Vorschlag einer Arbeitsgruppe über Arbeit und Handel hinaus - die Einführung von Arbeitsstandards mit Sanktionsmechanismen. Dies verärgerte nicht nur die Vertreter der Entwicklungsländer, sondern auch zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder, da der unerwartete Vorstoß Clintons eine Einigung unmöglich machte.

Wie geht es nun weiter? Während ab Januar 2000 zumindest die Verhandlungen über die bereits bei der letzten Runde beschlossenen Themen wie Landwirtschaft und Dienstleistungen fortgeführt werden, müssen sich die Vertreter der großen Wirtschaftsblöcke wohl erst einmal grundsätzliche Gedanken über die WTO machen.

EU-Kommissar Pascal Lamy hatte am Rande mehrfach die uneffektiven Verhandlungen beklagt und überraschte mit dem Vorschlag, ein WTO-Parlament einzurichten. Beobachter werteten dies als Versuch, vom Konsensprinzip in der WTO abzurücken.

Die Nichtregierungsorganisationen werden hingegen den Abbruch der Verhandlungen nutzen, um für ihre Forderung nach einer Überprüfung und Reformierung der WTO nach sozialen, ökologischen und menschenrechtlichen Gesichtspunkten zu werben. Für die meisten Aktivisten ist jedenfalls klar: Seattle war ein Meilenstein im Kampf gegen die neoliberalen Freihandelsideologen.